Siegens Transformation zur Autostadt in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs

Text: Fabi Hoffmann

In Siegen ohne Auto zu leben, ist oft ein Hindernis, da auf den Straßen kein Platz für andere Verkehrsmittel ist und der öffentliche Nahverkehr sehr unzuverlässig ist. Doch wie kam es zu dieser Situation? Dieser Beitrag untersucht die Entwicklung von Straßenbahnen und Bussen nach dem Zweiten Weltkrieg und den Einfluss des Autos auf die Stadtplanung.

1. Ausgangssituation

In Siegen ohne Auto zu leben ist häufig ein Hindernis. Öffentliche Verkehrsmittel sind unzuverlässig und fahren zu selten. Auch andere Fortbewegungsweisen sind schwierig: Fahrradspuren gibt es nur äußerst selten, was Radfahren gefährlich und unattraktiv macht. Die vielen steilen Wege der Stadt, die hochgegangen werden müssen, um wichtige Orte zu erreichen, wie den Adolf-Reichwein Campus für Studierende, machen es auch schwierig ausschließlich zu Fuß unterwegs zu sein. Wer nicht zentral nahe der Innenstadt wohnt, kann diese schlecht erreichen, insbesondere Abends fahren nur noch wenig Busse. Dies ist nur ein kleiner Einblick in die Verkehrssituation der Stadt und relativ schnell wird deutlich, dass in Siegen zu leben ohne Auto zu viel Frustration und Einschränkungen führt (Was das Projekt zu Klassismus in Siegen zeigt). Jedoch ist es in Anbetracht der aktuellen Klimakrise wichtiger denn je auf das Auto zu verzichten.

Der gesamte Verkehrssektor war 2022 für 22% der CO2 Emissionen in Deutschland verantwortlich (vgl. Umweltbundesamt 2023). Laut des Abschlussberichts des Instituts für Energie und Umweltforschung Heidelberg haben PKWs im Nahverkehr mehr als doppelt so hohe CO2-Emissionen als andere öffentliche Verkehrsmittel (vgl. Allekotte et al. 2021: 17). In dem Bericht wird die ‚Klimawirkung‘ der gängigen Verkehrsmittel errechnet, welche sich auf die CO2-Emissionen Äquivelente (CO2eq) pro Personenkilometer im Jahr 2017 ausrechnet. Miteinbezogen werden dabei die Klimaauswirkungen der Infrastruktur (z.B. Schienen- und Straßenbau), Herstellung des Fahrzeugs, Energiebereitstellung (z.B. Kraftstoff und Strom) und der Betrieb. PKWs kommen im Personennahverkehr auf 194 g CO2eq pro Personenkilometer (vgl. Allekotte et al. 2021: 38). Straßen-, Stadt- und U-Bahnen liegen dabei sehr viel besser bei 78 g CO2eq pro Personenkilometer und Linienbusse sind bei 88 g CO2eq pro Personenkilometer (vgl. Allekotte et al. 2021: 38). Am besten schneidet das Fahrrad ab, mit 9 g CO2eq pro Personenkilometer, welches fast ausschließlich aus der Produktion entsteht (vgl. Allekotte et al. 2021: 38).

Das Privatauto bleibt in Deutschland auch das beliebteste Fortbewegungsmittel: Mit ungefähr 48 Millionen Autos auf der Straße erreichte die Autodichte im Jahr 2021 einen neuen Höchststand und von den Neuzulassungen sind immer noch 57% mit einem klassischen Verbrennungsmotor ausgestattet (vgl. Statistisches Bundesamt 2023b). Insgesamt wurden 2021 im Straßenverkehr in Deutschland 142 Millionen Tonnen CO2, davon wurden 86 Millionen Tonnen CO2 nur von PKWs ausgestoßen (vgl. eurostat 2023).

Die Stadt autofreundlich zu gestalten, geschieht nicht zufällig. Es handelt sich um politische Entscheidungen und Maßnahmen, die getroffen wurden, um gezielt den Autoverkehr zu unterstützen und Alternativen an die Seite zu drängen. In diesem Beitrag wird an drei Beispielen nahegelegt, wie solche Maßnahmen ausgesehen haben. Der Blick in die Vergangenheit ist so nicht nur ein Einblick, wie der Verkehr ausgesehen hat, bevor das Auto komplett die Städte übernommen hat, wir können aus den Fehlern lernen und das Städtebild in Zukunft attraktiv für klimafreundliche Verkehrsmittel gestalten. Denn wenn gezielte Maßnahmen die Stadt zur Autostadt machen können, können im Gegenzug auch politische Entscheidungen eine klimafreundliche Innenstadt schaffen.

2. Autoindustrie in der Nachkriegszeit

Die Nachkriegszeit ist natürlich nicht die einzige Zeit, in der die Infrastruktur zugunsten der Autofahrer*innen verändert wurde. Schon in den 1930er Jahren wurden schon Strukturen geschaffen, damit das Auto nicht nur ein Luxusgegenstand ist, sondern die breite Gesellschaft sich eins leisten konnte (vgl. Canzler/Knie 2018: 39), dargestellt sehr deutlich durch den weitreichenden Autobahnbau (vgl. Canzler/Knie 2018: 24). Die Nachkriegszeit ist jedoch eine besonders bedeutende Zeit, da viele durch den Krieg zerstörte Städte neu aufgebaut und geplant werden mussten. So ist z. B. auch ein großer Teil Siegens zerstört worden (vgl. Delius 1950: 43) und es mussten Entscheidungen getroffen werden, wie die Verkehrsinfrastruktur funktionieren sollte. Viele dieser grundlegenden Entscheidungen sind heute noch im Stadtbild zu erkennen.

Ab den 1950er Jahren ist ein extremer Anstieg verkaufter PKWs zu beobachten, der erst in 1980er Jahren anfängt zu stagnieren (vgl. Canzler/Knie 2018: 20). Dieser wurde in der Nachkriegszeit gezielt unterstützt und im Wiederaufbau wurden Städte gezielt auf den PKW-Verkehr geplant, da dieses ein Symbol des Fortschritts und der Moderne war, auch wenn es direkt nach dem Krieg noch gar nicht so viele Autos in Deutschland gab (vgl. Canzler/Knie 2018: 28ff). Wie viele Personen eigene Autos besaßen, wurde als eins der zentralen Faktoren genutzt, um den Wirtschaftsfortschritt einer Gesellschaft zu messen (vgl. Canzler/Knie 2018: 30f). Im Jahr 1957 wurden einige politische Maßnahmen durchgesetzt, die PKWs weiter fördern sollten, u. a. durften Einnahmen der Energiesteuer[1] nur noch in den Bau und Erhalt von Straßen für Autos investiert werden (vgl. Canzler/Knie 2018: 31). So wurde ein selbstförderndes System geschaffen: “[M]ehr Steuern, mehr Infrastruktur, höhere Attraktivität für Autos mit steigendem Kraftstoffverbrauch, das heißt höhere Steuern mit wiederum mehr Geld für die Infrastruktur.” (Canzler/Knie 2018: 32).

Hinzu kam auch das Symbol, das das Auto für die Gesellschaft darstellte: Nach dem Vorbild der USA stand das Auto stellvertretend für Freiheit, Individualität und sozialer Aufstieg. So wurden die autofördernden Maßnahmen von einem großen Teil der Gesellschaft gerne angenommen, da der Traum vom eigenen Auto immer realistischer wurde (vgl. Canzler/Knie 2018: 37f).

3. Siegener Kreisbahn

Quelle: Sammlung Dr. Vogel, Zernsdorf, mit freundlicher Genehmigung, www.siegerlandbahn.de

Der Personenverkehr der Siegener Straßenbahn geht bis 1890 zurück auf der Siegen-Eiserfelder Strecke (vgl. Löttgers 2009: 94), ab 1904 dann der offizielle Beginn der Siegener Kreisbahn (vgl. Moll et al. 2005: 14). Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem ein großer Teil der Kreisbahninfrastruktur zerstört wurde, wurde diese zügig wieder aufgebaut (vgl. Moll et al. 2005: 29ff) und 1949 fuhren insgesamt vier Linien: Siegen-Kreuztal, Siegen-Geisweid, Siegen-Eisern und Siegen-Kaan-Marienborn (vgl. Moll et al. 2005: 47). Nachdem die Strecke Siegen-Eiserfeld 1948 elektrisiert wurde, hing die gesamte Kreisbahn am Stromnetz.

Elektrisierter ÖPNV ist ein attraktives Ziel hinsichtlich der Klimaziele. Wie schon im ersten Abschnitt beschrieben, sind die durchschnittlichen CO2-Emissionen pro Personenkilometer deutlich geringer, selbst mit der momentanen Stromgewinnung, die in Deutschland immer noch zu ungefähr einem Drittel[2] aus Kohlekraft gewonnen wird (vgl Statistisches Bundesamt 2023a). Da die beschriebene Studie von Alkotte et al. mit Zahlen aus dem Jahr 2017 arbeitet, entsteht ein großer Teil der CO2-Emissionen der Straßenbahn aus der Stromerzeugung, nämlich 59 g CO2eq pro Personenkilometer aus insgesamt 78 g. Wenn die erneuerbaren Energien in Deutschland ausgebaut werden und nach den Plänen der Bundesregierung 2045 klimaneutral sind (vgl. Bundesregierung.de o. J.), kommen nur noch Emissionen bei der Fahrzeugproduktion und dem Bau der Infrastruktur auf. Ein gutes Angebot und zuverlässiges System könnte dazu führen, dass mehr Personen nicht auf Autos angewiesen sind, insbesondere für tägliche Kurzstrecken. Aus diesen Gründen wird die Kreisbahn und ihre Abschaffung hier als Beispiel hervorgehoben, wie in Siegen Alternativen zum Auto verdrängt wurden, die heutzutage als klimafreundlich gelten.

In den 1950er Jahren konnten sich immer mehr Menschen PKWs leisten, auch weil die Politik die Autoindustrie stark unterstützte (siehe Kapitel 2). So wurden die Straßen immer befahrener und überfüllter. Die eingleisige Kreisbahn, die sich die Straße mit den Autos teilen musste, wurde zunehmend als Störfaktor im Verkehr gesehen. Sie hielt den Autobetrieb auf, was zu Staus und gefährlichen Situationen führte, wenn PKWs der entgegenkommenden Bahn ausweichen mussten, gleichzeitig wurde auch die Kreisbahn von dem Autoverkehr gestört und wurde so unzuverlässig und mit langen Verspätungen geplagt (vgl. Moll et al. 2005: 35ff). So sollte die Bundesstraße 54 im schon Jahr 1950 breiter gemacht werden, um mehr Platz für den Verkehr zu schaffen. Die Siegener Kreisbahn sollte sich in diesem Zuge der Bauarbeiten entscheiden, ob die Kreisbahn zweigleisig ausgebaut werden soll oder den Betrieb einzustellen und stattdessen auf Oberleitungsbusse setzen (vgl. Moll et al. 2005: 38)[3]. Der Ausbau des Schienennetzes war zu teuer für das Unternehmen und so wurde die Entscheidung getroffen, die Linie 1 von Siegen nach Kreuztal und die Linie 2 von Siegen nach Geisweid, stillzulegen (vgl. Moll et al. 2005: 39). Die Bauarbeiten an der Straße verzögerten sich, jedoch wurde am 22. Dezember 1950 die Entscheidung bekräftigt, der Obusbetrieb soll die Kreisbahn ersetzen, unabhängig der Bauarbeiten an der Straße (vgl. Moll et al. 2005: 39). Am 29. Mai 1952 fuhren die letzten Wagen auf den beiden Linien. Hier ist also zu erkennen, wie die Kreisbahn sich dem Autoverkehr unterordnen musste: Entweder sie wird so ausgebaut, dass sie den Autoverkehr weniger stört, wozu aber die finanzielle Unterstützung fehlte, oder es wird auf Busverkehr umgestellt, der sich besser in den Autoverkehr einreihen kann. Die letzte Fahrt der Linie 1 zeigt aber auch, dass viele Personen die Kreisbahn vermissen werden. So schreibt die Siegener Zeitung am 30. Mai 1952:

„Die letzte Bahn, die allerletzte von Kreuztal nach Siegen, war geschmückt. Fahrer und Schaffner traten in Frack und Zylinder Dienst. Es galt Abschied zu nehmen von den vielen Haltepunkten und von den vielen guten Freunden, die jahrelang zu den ‚Stammfahrgästen‘ der Bahn gehörten.“ (Siegener Zeitung zit. nach Moll et al. 2005: 38)

Aber die Fahrt ist auch geplagt von den alltäglichen Problemen und symbolisiert gut, wieso viele von der Kreisbahn frustriert waren, dadurch dass sich Individualverkehr und Kreisbahn gegenseitig in den Weg kamen:

„Da stand ein Personenwagen quer über den Gleisen und keiner fand sich, das Hindernis zu beseitigen. Und so wurde es später, immer später. Am Kaisergarten in Siegen aber standen zwei Herren und warteten ausdauernd auf die letzte Bahn, während andere Fahrgäste in Geisweid und Weidenau längst die Geduld verloren haben.“ (Siegener Zeitung zit. nach Moll et al. 2005: 38)

Nachdem die erste Strecke also stillgelegt wurde, führte dies innerhalb kurzer Zeit zu der Abschaffung der gesamten Kreisbahn (vgl. Moll et al. 2005: 40). Sie wurde weiterhin als Störelement auf den Straßen wahrgenommen und da der Busbetrieb sowieso zu der Zeit im Ausbau war, war kein Ausbau der Kreisbahn auf zweigleisige Strecken in Aussicht. Am 12. Februar 1954 wurde beschlossen, das Schienennetz abzubauen. Der Kreisbahn wurde etwas Übergangszeit gegeben, um die Infrastruktur für den Busverkehr zu schaffen (vgl. Moll et al. 2005: 40). Die Linie 4 von Siegen nach Kaan-Marienborn fuhr zum letzten Mal am 29. Juli 1956.  Die Linie 3 wurde am 31. August 1958 zunächst wegen Bauarbeiten an der Straße vorübergehend eingestellt, jedoch wurde am 19. Februar 1959 der Beschluss gefasst, den Betrieb nicht wiederaufzunehmen (vgl. Löttgers 2009: 171).

4. Oberleitungsbusbetrieb als Nachfolger der Kreisbahn?

Quelle: Sammlung Dr. Vogel, Zernsdorf, mit freundlicher Genehmigung, www.siegerlandbahn.de

Im Abschnitt über die Kreisbahn wurden die Oberleitungsbusse (Abk.: Obusse) in Siegen schon mehrfach erwähnt. Obusse sehen ähnlich aus wie kraftstoffbetriebene Omnibusse, sie werden jedoch angetrieben von einem Elektromotor und sind, ähnlich wie Straßenbahnen, an einer Fahrleitung angeschlossen, die den Bus mit dem nötigen Strom versorgt. Schon in den 1930er Jahren wurden erste Obusse eingesetzt, vor allem nach dem Kriegsbeginn wurden sie gefördert gegenüber Omnibussen, da der Kraftstoffimport während des Krieges erschwert wurde (vgl. Lehmann 2002: 16). In Siegen wurde der Obusbetrieb 1941 aufgenommen und ein kleines Netz in den Kriegsjahren gebaut (vgl. Moll et al. 2005: 175).

Ähnlich wie bei der Straßenbahn, sind Obusse die klimafreundlichere Alternative zu kraftstoffbetriebenen Omnibussen, da sie von grünem Strom betrieben werden können und bei der Nutzung so kaum Emissionen entstehen. Die einzige Klimabelastung entsteht dann bei dem Bau und Instandhaltung der Infrastruktur und der Herstellung der Fahrzeuge, was aber immer noch eine wesentlich kleinere Belastung ist im Vergleich zu Omnibussen. Daher wird an diesem Beispiel gezeigt, wie Infrastrukturen abgebaut wurden, da kraftstoffbetriebener Verkehr deutlich günstiger war.

Nach den Kriegsjahren musste die zerstörte Infrastruktur erst mal wieder aufgebaut werden. 1949 fuhren dann vier Obuslinien und es wurden weitere Erweiterungen geplant (vgl. Moll et al. 2005: 205). Obusse wurden häufig als direkter Nachfolger für die Kreisbahn genutzt. So wie auf der Bundesstraße 54, auf der die Kreisbahn nicht zusammen mit dem Ausbau der Straße weitergeführt werden sollte. Hier wurde schon 1951 geplant, den Obusbetrieb an Stelle der Kreisbahn einzusetzen (vgl. Moll et al. 2005: 210).

Ein offensichtlicher Nachteil der Obusse besteht darin, dass die Busse an bestimmte Strecken gebunden sind, an denen die Oberleitungen verlaufen. Seit den 1980ern werden deshalb Busse eingesetzt, die zu dem Betrieb mit der Oberleitung auch einen Dieselmotor eingebaut haben, um so flexibel wie ein Omnibus zu sein. Diese Hybridlösung wird z. B. in Solingen schon lange eingesetzt (vgl. Lehmann 2002: 17). Seit 2018 wurde angefangen in Solingen sogenannte BOBs (Battery Overhead Line Bus) einzusetzen (vgl. Przybilla 2018). Diese sind Batterie betrieben und laden sich an der Oberleitung auf, können dann aber getrennt werden und unabhängig von der Leitung elektrisch weiterfahren. Dieses Modell ist sehr vielversprechend für einen klimafreundlichen ÖPNV. Städte wie Solingen, die schon eine bestehende Infrastruktur haben, können so auf elektrisch-betriebene Busse umstellen. So ist rückblickend gesehen der Abbau der Oberleitungen in Siegen eine verpasste Chance auf einem schon bestehenden System aufzubauen, denn nun ist die Hürde sehr viel größer den Busverkehr auf Obusse umzustellen.

Das Obusnetz wurde weiter ausgebaut und begann in den 1950er Jahren die Strecken der Kreisbahn zu ersetzen. Insgesamt wurde dies als positiv aufgenommen, vor allem bei Personen die nun besser angebunden waren an Haltestellen, da diese sehr viel mehr abdecken konnten als die Kreisbahn. Die Siegener Zeitung schreibt am 28. Juli 1956 über den Wechsel auf Obusse auf der Strecke nach Kaan-Marienborn:

„Die Einwohner Kaan Marienborns werden den alten ‚Traumbahnen‘, die seit dem 10. Nov. 1948 regelmäßig ihren Dienst auf der Strecke versehen haben, nicht nachtrauern, denn sie werden von morgen ab den großen Vorteil haben, keine Wanderungen mehr zu den abseits gelegenen Haltestellen unternehmen zu müssen. Die Omnibusse […] fahren im Rundverkehr durch Kaan, so daß [sic!] es nur noch ein ‚paar Schritte‘ zu den nächsten Haltestellen sind.“ (Siegener Zeitung zit. nach Moll et al. 2005: 41)

Im Jahr 1958 hatte das Netz seinen Höchststand erreicht: Es fuhren sieben Linien und war mit einer Streckenlänge von 46,21 km eines der größten Obusbetriebe in Deutschland (vgl. Moll et al. 2005: 229). In den folgenden Jahren wurden jedoch, ähnlich wie bei der Kreisbahn, alle Strecken stillgelegt. Die erste Stilllegung erfolgte 1962 auf der Strecke Rinsdorf-Wilnsdorf. Dort sollte die Straße als Zubringer für die geplante Autobahn A45 umgebaut werden (vgl. Moll et al. 2005: 232). Dafür müssten die veralteten Obusleitungen komplett neu gebaut werden und neuere Busse gekauft werden (vgl. Moll et al. 2005: 232). Stattdessen wurden neue kraftstoffbetriebene Omnibusse besorgt, die die Obuslinien ersetzen sollen. So wurden auch die Obusse von dem Ausbau des Individualverkehrs getroffen. Mit dem Ausbau der Straßen mussten die Oberleitungen verlegt, erneuert und neu gebaut werden, was mit erheblichen Kosten verbunden war (vgl. Moll et al. 2005: 172).

So wurden im Laufe der 1960er Jahre Schritt-für-Schritt alle Obuslinien stillgelegt: Die Erneuerung der Leitungen wäre teuer und aufwändig gewesen und Omnibusse waren nun günstig genug, um den Betrieb komplett auf sie auszulegen (vgl. Moll et al. 2005: 235). Auch im Betrieb waren Omnibusse deutlich günstiger, da Dieselkraftstoff zu der Zeit sehr günstig war und weniger Personal im Bus benötigt wurde (vgl. Moll et al. 2005: 232). Am 4. Januar 1969 fuhren die Obusse zum letzten Mal und schon im Frühjahr wurden alle Oberleitungen abgebaut (vgl. Moll et al. 2005: 236).

5. ‚Fußgängerfreundliche‘ Laubengänge in der Oberstadt

In dem letzten Kapitel wird ein Blick auf die Oberstadt geworfen, um die Strategie des Wiederaufbaus an einem Beispiel darzustellen. Im Gegensatz zu den anderen beiden Beispielen sind die Folgen dieser Maßnahme für uns heute nicht wirklich problematisch, unter bestimmten Umständen sind sie sogar ganz gut. Der Fokus soll auf die Argumentation dieser Maßnahmen gelegt werden, die sehr gut darstellt, wie sich viel um die Erhaltung und Ausbau des Autoverkehrs gedreht hat.

In einem Artikel der Zeitschrift des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins, Siegerland: Blätter des Vereins für Heimatkunde und Heimatschutz im Siegerlande und Nachbargebieten e.V, erklärt der in Siegen aktive Architekt Hellmut Delius die Wiederaufbaumaßnahmen der Oberstadt. In dem Artikel wird aber nicht nur beschrieben, welche Maßnahmen durchgeführt werden, es werden auch alternative Überlegungen beschrieben und die Gegenargumente, warum im Endeffekt anders entschieden wurde. So ist gut nachzuvollziehen, welche Ideen auf dem Tisch lagen und welche Strategie verfolgt wurde bei dem Wiederaufbau der Oberstadt.

Wichtig sei es gewesen sein, den Charakter der Altstadt zu bewahren (vgl. Delius 1950: 45). Dafür sollten die Straßen in ihrer Breite und ihrem Verlauf nicht verändert werden (vgl. Delius 1950: 45). Das ist deswegen problematisch, da Autos viel Platz einnehmen, aber trotzdem der Fußverkehr in der Oberstadt gefördert werden sollte. Hier muss auch angemerkt werden, dass zu dieser Zeit die Kölner Str. auch noch von Autos befahren wurde, erst 1970 wurde sie zu einer Fußgängerzone. Wer aber die Löhrstr. kennt, die mit der Kölner Str. am Markt zusammen führt, kann sich vorstellen, wie eng die Kölner Str. damals war. So wurde beschlossen, in der Kölner Str., Löhrstr. und Marburger Str. sogenannte Laubengänge zu errichten, die auch heutzutage noch vorhanden sind. Laubengänge sind Passagen, in denen ein Weg unter einem Gebäude geschaffen wird. Mithilfe von Säulen kann also ein Bürgersteig geschaffen werden, der die Maße der Straße nicht beeinträchtigt, aber auch den Autoverkehr nicht stört.

In dem Artikel werden einige Pro und Contra Argumente für diese Laubengänge genannt[4]. Für sie spräche, dass mehr Raum für Fußgänger*innen gewonnen wird; die Charakteristik der Altstadt erhalten bleibe; die Geschäfte gut erreichbar seien, auch bei schlechtem Wetter und sie frei von Eis und Schnee bleiben, was bei einer so steilen Straße zu mehr Sicherheit führe (vgl. Delius 1950: 46). Argumente dagegen seien die hohen Kosten der nötigen künstlichen Beleuchtung und dass die Laubengänge durch den steilen Anstieg der Straßen nicht schön aussähen (vgl. Delius 1950: 45). Auffällig ist, dass der Autoverkehr in dem Text nicht auch nur einmal kritisch betrachtet wird, auch wenn betont wird, der Autoverkehr würde “weitgehend durch die Rücksicht auf den Fußgängerverkehr bestimmt werden.” (Delius 1950: 45) Hier ist also gut zu beobachten, wie der Autoverkehr alle anderen Maßnahmen in gewisser Weise bestimmt: Die Altstadt soll fußgängerfreundlich gestaltet werden, aber die Bürgersteige werden so gebaut, dass der Autoverkehr nicht beeinträchtigt wird. Dass die Kölner Str. auch gut eine autofreie Zone sein kann, ist heutzutage längst bewiesen. Wie schon gesagt, die Laubengänge selber sind kein Problem: Sie sind auch heute sogar ganz angenehm bei schlechtem Wetter oder als Schattenplatz bei zu heißem Wetter. Worum es hier geht, ist aber die Argumentation: Anstatt, wie angekündigt, eine wirklich fußgängerfreundliche Altstadt zu planen, wird der Autoverkehr als unveränderbar gesehen und alle Maßnahmen müssen um ihn herum geplant werden. Denn Laubengänge alleine machen die Oberstadt nicht zu einem fußgängerfreundlichen Ort, wenn der Großteil der Straße immer noch für Autos reserviert bleibt.

6. Fazit

An drei Beispielen wurde gezeigt, wie in der Nachkriegszeit Siegen sich zur Autostadt gewandelt hat und wichtige Strukturen abgebaut hat, die aus heutiger Sicht für eine klimafreundliche Stadt notwendig sind. Die Kreisbahn wurde schon in den 1950ern abgebaut, vor allem weil sie den Autoverkehr auf den Straßen störte und nicht genug Geld investiert wurde, um sie genug auszubauen bzw. zu erhalten. Die elektrisch-betriebenen Oberleitungsbusse wurden in vielen Fällen als Ersatz für die Kreisbahn eingesetzt, aber auch sie wurden in den 1960ern zu teuer, insbesondere durch die Straßenbaumaßnahmen, die für den Individualverkehr durchgeführt wurden. Sie wurden ebenfalls Stück-für-Stück durch die günstigeren, kraftstoffbetriebenen Omnibusse ersetzt. Die Laubengänge der Oberstadt sollen aufzeigen, wie damals alle Alternativen zum Auto, selbst wenn ein Fokus auf sie gelegt wurde, dem Autoverkehr weichen mussten. Obwohl das Platz- und Gefahrenproblem bekannt war, stand es wohl gar nicht erst zur Diskussion, das Auto aus der Altstadt zu verbannen.

In der Zukunft müssen nun die Strukturen für klimafreundlichen Verkehr wieder neu aufgebaut werden. Die Kölner Str. zu einer Fußgängerzone zu machen war eine gute Veränderung, doch die Marburger Str. und insbesondere die Löhrstr. sind immer noch sehr eng durch den Autoverkehr. Der ÖPNV ist, wie am Anfang des Beitrags beschrieben, in einer sehr schlechten Lage. Neue Investitionen, die den Verkehr ausbauen, attraktiver machen und elektrisieren würde Siegens Klimabilanz enorm verbessern und ist ein wichtiger Schritt, eine klimafreundliche Zukunft zu gestalten.

Literaturverzeichnis

Allekotte et al. (2021): „Umweltfreundlich mobil!“, Broschüre,Dessau-Roßlau, 03.2023, https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/5750/publikationen/2021_fb_umweltfreundlich_mobil_bf.pdf, Stand: 18.08.2023.

Bundesregierung.de (o. J.): „Das Zeitalter der erneuerbaren Energien “, Beitrag, https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/klimaschutz/erneuerbare-energien-317608, Stand: 27.07.2023.

Canzler, Weert/Knie, Andreas (2018): Taumelnde Giganten: Gelingt der Autoindustrie die Neuerfindung?, München.

Delius, Hellmut (1950): „Die Wiederaufbaupläne der Stadt Siegen“, in: Siegerland. Blätter des Vereins für Heimatkunde und Heimatschutz im Siegerlande und Nachbargebieten e.V., 27(2), 43-56.

eurostat (2023): „Treibhausgasemissionen nach Quellsektor“, 28.04.2023, https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/env_air_gge/, Stand: 18.08.2023.

Lehmann, Jürgen (2002): „Unter Strom. Obus-Betriebe in Deutschland“, in: industrie-kultur, 18(1), 16-18.

Löttgers, Rolf (2009): Von der Eisern-Siegener Eisenbahn zur Kreisbahn Siegen-Wittgenstein, Siegen.

Moll, Gerhard et al. (2005 [2004]): Straßenbahnen und Obusse im Siegerland: der elektrische Personen- und Güterverkehr der Siegener Kreisbahn, Siegen.

Przybilla, Steve (2018): „Wie Solingen 147.000 Liter Diesel spart“, Artikel, 22.10.2018, https://www.spiegel.de/auto/aktuell/solingen-setzt-innovative-elektro-oberleitungsbusse-ein-a-1227491.html, 01.08.2023.

Statistisches Bundesamt (2023a): „Stromerzeugung 2022: Ein Drittel aus Kohle, ein Viertel aus Windkraft“, Pressemitteilung, 09.03.2023, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/03/PD23_090_43312.html, Stand: 17.08.2023.

Statistisches Bundesamt (2023b): „Straßenverkehr: Dominanz des Autos ungebrochen“, 30.05.2023, https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Verkehr/Auto.html, Stand: 18.08.2023.

Umweltbundesamt (2023): „Kohlendioxid-Emissionen“, 11.04.2023, https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/treibhausgas-emissionen-in-deutschland/kohlendioxid-emissionen#kohlendioxid-emissionen-im-vergleich-zu-anderen-treibhausgasen, Stand: 26.09.2023.

Endnoten

[1]   Damals noch Mineralölsteuer genannt.

[2]   Im Jahr 2023 kam 33,3 % des Stroms aus Kohlekraftwerken und war damit der wichtigste Stromproduzent. Konventionelle Energieträger machten insgesamt 53,7 % des Stromgewinns aus, erneuerbare kamen auf 46,3% (vgl. Statistisches Bundesamt 2023a).

[3]   Der Gedanke, der Kreisbahn ihre eigene Spur zu geben ohne Autoverkehr, ist mir in meiner Recherche nicht begegnet.

[4]   Delius nennt die Laubengänge „lebhaft umstritten“ (Delius 1950: 45).