Diskursgarten

Text: Denis Gerner und Ylva Staudigel

Wissen und Diskurs

Seit der Mensch sich niedergelassen hat, gibt es Gärten. Im 21. Jahrhundert aber wurden aus vielen Gärten Tatorte: Aus Biotopen wurden Flächen, aus Ökosystemen Steingärten. Die Jüngeren kennen das gar nicht mehr, sagt Mark Benecke: Früher „war alles voll, die ganze Welt war voll Vogelgesang, voll Schmetterlingen, voll Fröschen, voll Kröten und so weiter, […] ihr könnt euch das noch nicht mal ansatzweise vorstellen. Das ist wie im Disneyfilm oder Avatar“, so der Kriminalbiologe in einem Vortrag der Reihe Time is Up, in welcher er an verschiedenen Hochschulen über den gegenwärtigen Stand der Klimakrise und den Biodiversitätsverlust spricht (vgl. Dr. Mark Benecke’s Official Youtube Channel 2023, 01:04:33-01:04:46). Überall sei es damals gekreucht und gefleucht. Heute nicht mehr.

Kreuchen und fleuchen – das mag für viele von uns auf erstmal gar nicht so angenehm klingen. Also warum sollten wir das wollen?

Unsere Ökosysteme brauchen Biodiversität: Für die Reinigung von Luft und Wasser, für Bestäubung von Pflanzen, die Bodenbildung und Nahrungsproduktion, die Klimaregulierung. Doch Abholzung, Umweltverschmutzung, Verstädterung, der Verlust von Ökosystemen und der Einsatz von Ackergiften – nur einige Beispiele menschlichen Handelns – sind maßgeblich für ihren Rückgang verantwortlich (vgl. European Environment Agency 2020). Dabei geht es nicht nur um den Regenwald, der weit von uns entfernt zerstört wird, sondern auch darum, was direkt vor unserer Haustür geschieht.

Städte werden doch eigentlich für Menschen gebaut. Straßen, Anwohnerparkplätze und Parkplätze vor dem Büro müssen reichlich vorhanden sein, denn der Weg zur Arbeit soll mit dem Auto schnellstmöglich und ohne Komplikationen zurücklegbar sein. In unserer Freizeit halten wir uns häufig in Innenstädten auf, die aus Ansammlungen von Geschäften und steinernen Plätzen bestehen. Aber warum sind eigentlich selbst die Sitzmöglichkeiten am Siegufer ausgerechnet aus Beton?

Wir sind umgeben von versiegelten Flächen. Unser Komfort scheint in der Stadt immer auch ein Verdrängen von Natur zu bedeuten.

Dabei profitieren wir Menschen nicht einmal davon. Von den bereits genannten langfristigen Folgen abgesehen, ist das Stadtklima insbesondere im Sommer auch für uns spürbar anstrengend. Unsere Städte sind Hitzeinseln. Materialien wie Beton und Glas speichern Wärme, die Luftzirkulation in stark bebauten Gebieten ist eingeschränkt und es kann kaum noch kühlender Wind wehen, und auf versiegelten Plätzen gibt es kaum Schatten. Mit den Temperaturen steigen auch die Hitzetode jährlich (vgl. Ballester et al. 2023).

Jede neue Grünfläche, jede Blühwiese und jeder Baum sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber es bedarf flächendeckender (oder vielmehr: flächenfreilegender) politischer Maßnahmen, um langfristig etwas zu ändern. So werden Konzepte einer (klima)resilienten Stadt, die Begrünung fördern und Prävention von Umweltkatastrophen in den Vordergrund rücken, immer wichtiger.

Angesichts solcher Umstände fühlt man sich oft machtlos. Was kann eine Einzelperson schon zu Klimaresilienz und Katastrophenschutz beitragen? Die Antwort: Einiges. Die eigenen Handlungsmöglichkeiten sollten nicht unterschätzt werden.

Expert:innen sehen in Privatgärten große Wichtigkeit für die Zukunft der Artenvielfalt. Laut NABU gibt es schätzungsweise 17 Millionen davon in Deutschland (vgl. NABU 2022). Insgesamt machen sie eine Fläche aus, die mit ungefähr 1,4 Millionen Hektar etwa so groß ist wie die aller Naturschutzgebiete zusammen (vgl. Lingenhöhl 2021).

Die Größe der Fläche spielt Expert:innen zufolge zunächst keine maßgebliche Rolle. Vielmehr ist es die Erreichbarkeit und Vernetzung: Durch qualitative Begrünung entstehen sogenannte Trittsteinbiotope, die als Rückzugsorte, Brutstellen oder als Nahrungsquelle für Tiere auf der Durchreise dienen können. Selbst der kleine Stadtbalkon kann so eine große Hilfe sein.

Wichtig ist dabei die Art der Bepflanzung. Heimische Pflanzen für Schmetterlinge und Bienen, nektarreiche Blüten, Grasbüschel und Moospolster – eine hohe biologische Vielfalt ist essentiell. Darüber hinaus kann man Wasserstellen mit Steinen anbieten, Laubhaufen und Totholz als Unterschlupf und Niststätte im Garten lassen oder ein Insektenhotel aufstellen. So wird der Garten auch für Nützlinge einladend – von Igeln bis hin zu Laufkäfern (vgl. Warneck 2023).[1]

Doch schaut man sich in Wohngebieten um, stellt man schnell fest, dass es sich bei vielen Gärten nicht um grüne Oasen und kleine Biotope handelt. Stattdessen findet man penibel geschnittenen Rasen ohne jegliche andere Bepflanzung oder versiegelte Flächen, etwa in Form von erweiterten Terrassen und überdimensionierten Stellplätzen. Auch spärlich oder gar nicht bepflanzte Schottergärten sind eine beliebte Option, die seit einigen Jahren auf dem Vormarsch ist – obwohl einige Länder mittlerweile dagegen vorgehen. Der Vorteil, so das Versprechen: Schottergärten sind kostengünstig und weniger Arbeit für Menschen, die keine Zeit haben oder körperlich nicht dazu in der Lage sind, sich um einen Garten zu kümmern. Doch was ist wirklich da dran?

In Wirklichkeit, so zeigt der NABU, tut man sich mit einem Schottergarten und versiegelter Fläche vor dem Eigenheim keinen Gefallen. Sowohl das Anlegen eines Schottergartens als auch dessen Erhalt sind kostenintensiver und pflegeaufwändiger als auf den ersten Blick erscheint. Moose, die sich auf den Steinen ansetzen und Laub, das auf die Fläche fällt, müssen regelmäßig entfernt werden; nach drei bis zehn Jahren muss die gesamte Fläche abgetragen und gereinigt werden. Nicht nur in dieser Hinsicht sind Schottergärten extrem energieaufwändig. Im Sommer heizen sich die Steine auf; das wirkt sich sowohl auf die vereinzelten Pflanzen negativ aus, welche trotz häufigerem Gießen oftmals vertrocknen, als auch auf das Hausklima, denn nicht einmal in der Nacht wird die Luft durch Pflanzen abgekühlt. Und auch die Staubbelastung steigt aufgrund mangelnder Bepflanzung. Bei Starkregen stellen Schottergärten ebenfalls ein erhöhtes Risiko dar: Das Wasser kann aufgrund der Verdichtung des Bodens nicht versickern und läuft stattdessen – zum Beispiel – in den Keller (vgl. NABU o.D.).

Nicht zuletzt aus ökologischer Perspektive sind Schottergärten wertlos. Für kaum ein Lebewesen bieten sie Zuflucht: keine Nahrung für Insekten und Vögel, kein Unterschlupf für Kleinsäuger und Reptilien (vgl. ebd.). Das hat auch die Politik erkannt und so dürfen etwa in NRW ab 2024 Schottergärten nicht mehr angelegt werden; erste Städte fordern sogar zum Rückbau auf (vgl. Stock 2023).

Es ist also höchste Zeit, den Schottergarten zurückzubauen und den Balkon zu begrünen. Jede:r von uns kann einen Teil dazu beitragen, unsere Umgebung wieder freundlicher zu gestalten, sowohl für uns selbst als auch für unsere kleineren Zeitgenossen.

Ballester, Joan; Quijal-Zamorano, Marcos; Méndez Turrubiates Raúl Fernando; Pegenaute, Ferran, Herrmann, François R.; Robine, Jean Marie; Basagaña, Xavier; Tonne, Cathryn; Antó, Joseph M.; Achebak, Hicham (2023): Heat-related mortality in Europe during the summer of 2022. In: Nature Medicine 29(7), S. 1857-1866. doi: 10.1038/s41591-023-02419-z.

Dr. Mark Benecke’s Official Youtube Channel (27.03.23): Die neuesten Messungen: Umwelt & Klima (April 2023) 🍃 [Video]. YouTube. URL: https://www.youtube.com/watch?v=W19k5uquRfw (Zugriff am 31.08.23).

European Environment Agency (2020): Biodiversität – Ökosysteme. In: eea.europa.eu. URL: https://www.eea.europa.eu/de/themes/biodiversity/intro (Zugriff am 31.08.23).

Goulson, Dave (2019): Wildlife Gardening: Die Kunst, im eigenen Garten die Welt zu retten. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG.

Lingenhöhl, Daniel (2021): Weniger Ordnungswut, mehr Wildnis wagen. In: Spektrum.de. URL: https://www.spektrum.de/kolumne/zuhause-gaertnern-wagt-mehr-wildnis-im-garten/1846243 (Zugriff am 31.08.23).

NABU (2022): Wie Millionen von Gärten in Deutschland zum Schutz der biologischen Vielfalt beitragen können. In: nabu.de. URL: https://www.nabu.de/news/2022/05/31560.html (Zugriff am 31.08.23).

NABU (o.D.): Der Schottergarten. Negativtrend mit ökologischen Folgen. In: nabu.de. URL: https://www.nabu.de/umwelt-und-ressourcen/oekologisch-leben/balkon-und-garten/grundlagen/planung/26658.html (Zugriff am 31.08.23).

Stock, Simon (2023): Rückbaupflicht bei Schottergärten: So sieht es mit dem Bestandsschutz aus. In: wa.de. URL: https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/ministerium-bauaufsicht-schottergarten-bestandsschutz-rueckbau-pflicht-bauordnung-nrw-92482777.html (Zugriff am 31.08.23).

Warneck, Christoph (2023): Artenschwund in Deutschland: Was bringt das Biotop im Garten? In: zdf.de. URL: https://www.zdf.de/nachrichten/ratgeber/artensterben-garten-biotop-planet-e-100.html (Zugriff am 31.08.23).


Metaphern und Kollektivsymbolik um und im Garten

Was machen schwarze Schafe unter Menschen und wieso kann man ein Zimmer genauso ausmisten wie einen Stall?

Kollektivsymbole wie diese begleiten uns sprachlich überall im Alltag. Sie können Sachverhalte verbildlichen oder kreativ ausdrücken. Kollektivsymbole haben eine wichtige Funktion: Sie helfen uns, Ereignisse zu deuten, indem sie sich allgemein gängigen und zugänglichen Metaphern bedienen.

Zur Kollektivsymbolik einer Kultur zählt Clemens Knobloch „den gesellschaftlich geteilten Vorrat an sprachlichen, bildlichen, schematischen und anderen Ressourcen, derer sich politische und mediale Akteure bedienen, um Ereignisse und Handlungen für die Allgemeinheut deutbar und verständlich zu machen“ (Knobloch 2022).

Ein Bild, das Text, Schrift, Screenshot, weiß enthält.

Automatisch generierte BeschreibungWas zunächst abstrakt klingt, machen Schlagzeilen in Zeitungen schnell deutlich.

Quelle: https://www.siegener-zeitung.de/lokales/siegerland/wilnsdorf/wilnsdorf-und-kirchen-auch-heimische-schwertransporte-koennen-nicht-rollen-TK2ABRB6KJFNBD4NCRVGS5HGPM.html (Zugriff: 31.8.2023)
Quelle: https://www.siegener-zeitung.de/wirtschaft/dm-darf-nicht-mit-klimaneutral-oder-umweltneutral-werben-wer-blickt-schon-durch-den-label-dschungel-Y3XLBTBJDBF75NIBXCEKESDJ6M.html (Zugriff: 31.8.2023)

Was macht der Dschungel im Siegerland? Ganz einfach: Ein Kollektivsymbol sein.

Ein Dschungel aus Behörden oder Labels – denkt man genauer drüber nach, kann das nicht funktionieren, aber trotzdem wissen wir, was gemeint ist: Undurchdringlichkeit, Verwirrung. Diese Eigenschaften vom Dschungel sind in unserer Kultur kollektiv mit dem Begriff verbunden. Überträgt man sie auf die Behörden oder Gegenstände, versteht man sie schnell als schwer navigierbar und anstrengend. Durch die Metapher wird der Sachverhalt deutbar, sie veranschaulicht ihn auf eine kreative Weise. Dass der Dschungel eine beliebte Metapher ist, ist kein Zufall. Bilder und Veranschaulichungen unserer Kollektivsymbole stammen nämlich aus bestimmten ‚Spendersphären‘: Bereiche, die einer Gesellschaft und Kultur wohlbekannt sind und zum gemeinsamen Wissens- und Erfahrungsschatz gehören.

Die Natur ist eine von vielen dieser Spendersphären. Ob Dschungel oder Flut – wir wissen, was gemeint ist, wenn diese Begriffe fallen. Preise wuchern, manche Ideen sollte man besser im Keim ersticken. Die Wirtschaft kann zwar aufblühen, aber wenn uns selbst etwas blüht, dann ist das meistens etwas Schlechtes:

Quelle: https://www.siegener-zeitung.de/lokales/siegerland/siegen/siegen-einstiege-ins-freibad-auch-hier-keine-seltenheit-4FM5A2Z66JG2ZFS57QTCJ4JDMY.html (Zugriff: 31.8.2023)

In der Wirtschaft findet man häufig Bilder, die aus der Natur stammen. Ein besonders häufiges Kollektivsymbol ist das des Wachstums. Es liefert eine biologische Bedeutung und trägt zu einem Gefühl der Naturalisierung bei. Dabei ist grenzenloses Wachstum, wie es in der Wirtschaft angestrebt wird, alles andere als natürlich. Das sagt auch die Wachstumskritik: Denn in der Natur hat positives Wachstum ein Ende – bei Bäumen, bei Menschen. Unendliches Wachstum hingegen sei ein unerwünschter Prozess, etwa im Fall von Krebszellen (vgl. Fischer 2014, S. 141). Die Idee von (Wirtschafts)Wachstum soll in diesem Ansatz renaturalisiert werden, indem „Wachstum wieder als Naturbegriff mit Grenzen stark gemacht“ (Fischer 2014, S. 140) wird. Wirtschaftswachstum ohne Grenzen kann nicht funktionieren, so ‚grün‘ es sich auch nennen mag; das beweisen nicht zuletzt Ressourcenknappheit und die Klimakatastrophe.

Die Universität Siegen bietet sich hier zur Veranschaulichung an. Sie will wachsen – auch räumlich. Dazu wird zum Beispiel ein gänzlich neues Forschungszentrum am Adolf-Reichwein-Campus gebaut. Für Forschende und Studierende natürlich eine gute Nachricht. Die Kehrseite: Neue Gebäude zu errichten ist alles andere als nachhaltig. An vielen anderen Stellen hingegen schreitet die Universität mit positivem Beispiel voran. So werden für viele bereits existierende, leerstehende Gebäude Nachnutzungskonzepte erarbeitet, in denen ‚neue‘ Räume für die Universität entstehen – zum Beispiel im ehemaligen Karstadt-Gebäude, ehemaligen Geschäfts- und Möbelhäusern und dem ehemaligen Druckhaus der Siegener Zeitung.

Kollektivsymbole können helfen, (zu) komplexe Sachverhalte für die breite Gesellschaft verständlich zu machen. Gleichzeitig lassen sie aber auch Rückschlüsse auf unsere Gesellschaft zu. Zum Beispiel, indem man sich die Art der Verwendung bestimmter Metaphern anschaut: Warum steht der Dschungel für Verwirrung und nicht für Vielfalt? Aber auch die Spendersphären selbst können problematisiert werden. So kritisiert Martin Reisigl die Häufigkeit von Kollektivsymbolen aus den Bereichen Verkehr und Automobilismus, welche von einem ökologisch inakzeptablen Steigerungswahn zeuge (vgl. Reisigl 2021).

Quelle: https://www.welt.de/wirtschaft/article110882065/Lidl-auf-der-Ueberholspur-Bald-an-Aldi-vorbei.html (Zugriff: 31.8.2023)

Reisigl sieht in Kollektivsymbolen nicht nur Hilfen zur Deutung von teils komplexen gesellschaftlichen Ereignissen, sondern auch das Potential, einen Sprachkompass zu prägen. Anstelle von Automobilismus und Wirtschaftswachstum kann der Fokus auf Ökologie und Nachhaltigkeit gelenkt werden, um das Bewusstsein dafür zu stärken. Warum Gas geben, einen Gang runterschalten oder die Spur kriegen? Reisigl stellt dem „von einer Rhetorik der Verschwendung angetriebenen autozentrierten Mobilitätsexzess“ eine „ökolinguistisch ausgerichtete Diskurskritik“ gegenüber:

„Suffizienz bedeutet dabei nicht Verzicht und Entbehrung, sondern ressourcenschonendes Streben nach befriedigender Lebensqualität jenseits einer Logik des Immer-Mehr. Der Sprachkompass kann das Bewusstsein fördern für suffizientere Fortbewegungsalternativen zum Automobil, und das nicht durch bloße Negation, sondern durch motivierenden Sprachgebrauch, der die Vorzüge des Zu-Fuß- Gehens und Radfahrens herausstellt.“ (Reisigl 2021, S. 361)

Quelle: https://www.focus.de/wissen/folgen-auch-in-deutschland-spurbar-forscher-warnen-vor-zerstoererischem-klimaphaenomen-muessen-uns-anschnallen_id_192346965.html (Zugriff: 31.8.2023)

Die Natur dringt bis in unseren Sprachgebrauch vor; das zeigt ein näherer Blick auf die Kollektivsymbolik unserer Gesellschaft. Vielleicht kann sich unser Sprachgebrauch auch positiv auf unser Verhältnis zur Natur auswirken.

Fischer, Luisa: Wachstum und Wachstumskritik – Renaturalisierung eines wirtschaftswissenschaftlichen Dogmas. In: Fabian Deus, Anna-Lena Dießelmann, Luisa Fischer, Clemens Knobloch (Hrsg.): Die Kultur des Neoevolutionismus. Zur diskursiven Renaturalisierung von Mensch und Gesellschaft, S. 135-169. Bielefeld 2014.

Knobloch, Clemens (2022): Kollektivsymbol. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. URL: https://diskursmonitor.de/glossar/kollektivsymbol (Zugiff am 31.08.23).

Reisigl, Martin (2021): Weniger ist mehr! In: Deutsche Sprache, 4(7). DOI: https://doi.org/10.37307/j.1868-775X.2021.04.07.


Alles eine Frage der Perspektivierung

Blattläuse, Nacktschnecken und Raupen: Kaum jemand möchte sie im Garten haben, denn immerhin können sie Pflanzen und Ernten im Nullkommanichts ruinieren. Diese spürbaren Folgen ihrer Präsenz haben manchen Tieren einen Ruf als ‚Schädlinge‘ eingebracht[2]. In der industriellen Landwirtschaft, aber auch in vielen privaten Gärten wird mit Pestiziden rigoros gegen Schädlinge vorgegangen – oft auch präventiv. Dabei sind die sogenannten Ackergifte, neben dem Verlust von Habitaten, schon längst als einer der Hauptverursacher des massenhaften Artensterbens bei den Insekten erkannt worden.

Aber wem schaden diese ‚Schädlinge‘ eigentlich, und sind sie wirklich so schlecht, wie ihr Name nahelegt?[3]

Der Begriff ‚Schädling‘ ist ein Zeugnis von Perspektivierung. Perspektivierung meint eine „mehr oder weniger strategische Bemühung von Kommunikanten, durch die Wahl sprachlicher Mittel eine bestimmte kognitive Wahrnehmung bei den adressierten Personen nahezulegen“ (Schmallenbach 2022). Der bezeichnete Schaden ist dabei nicht etwa der, der den Pflanzen zugefügt wird, sondern der am (wirtschaftlichen) Erfolg des Menschen, den die Tiere verursachen.

So sind Blattläuse für den Menschen Schädlinge, denn sie schwächen Pflanzen und beeinträchtigen das Wachstum der Früchte. Für Marienkäfer und einige Vogelarten hingegen sind sie – im wahrsten Sinne des Wortes – gefundenes Fressen. Betrachtet man die Sache aus einer anderen Perspektive, so wird schnell klar, dass Blattläuse also durchaus auch einen Nutzen haben; sie sind ein ebenso wichtiger Bestandteil des Ökosystems wie jedes andere Lebewesen auch.[4] Das Wort ‚Schädling‘ zeugt von einer zutiefst begrenzten, anthropozentrischen Perspektive. Das zeigt auch das Beispiel des in Siegen berüchtigten Borkenkäfers.

Um und in Siegen wütet dieser Käfer seit einigen Jahren: Ganze Wälder sind davon sichtbar betroffen. Die einst grünen Berghänge sind braun oder nackt, viele Fichten sind dem Kahlschlag gewichen: Das Holz soll verkauft werden, bevor es mit dem nächsten Befall an Wert verliert oder sogar wertlos wird. Dabei ist der Borkenkäfer eigentlich nicht das wahre Problem.

Fichtenwälder prägen seit langer Zeit die Siegerländer Landschaft. Ihr Fehlen ist deshalb kaum zu übersehen; die leere Kulturlandschaft, die die Kahlschläge hinterlassen, wirkt für uns schockierend. Aus Sicht der Forstwirtschaft mag das schon anders sein, denn der Handel mit dem Fichtenholz war lange ein lukratives Geschäft. Genau das ist es, was überhaupt hinter den Fichtenwäldern steckt: Ein Geschäftsmodell. In Wirklichkeit handelt es sich nämlich gar nicht um echte Wälder, sondern um Monokulturen – Plantagen von Bäumen, die hier eigentlich nicht heimisch sind: Erst ab den 60er Jahren wurden Flächen, die früher von Buchen und Eichen dominiert wurden, für die wirtschaftlich attraktive Fichte ‚freigemacht‘ (vgl. Unser Siegen 2021). 

Hier wird schnell klar: Grün ist nicht gleich grün und Wald ist nicht gleich Wald. Die Wasserspeicherfähigkeiten der Fichtenplantagen sind extrem schlecht. Die anhaltenden Dürren führen dazu, dass die Bäume nicht genügend Harz produzieren können, eigentlich ein natürlicher Schutz vor Fressfeinden und Eindringlingen wie dem Borkenkäfer. Hitzeschäden erschweren oder verhindern die Erholung der Fichten sogar ganz. Dazu kommt die mangelnde Artenvielfalt in den Plantagen, die sich ebenfalls negativ auf die Gesundheit und Resilienz der Bäume auswirkt. Für den Borkenkäfer sind die Plantagen ein wahres Schlaraffenland. In echten Wäldern – Urwäldern – sieht das ganz anders aus. Und noch dazu haben sie einen nachweislich kühlenden Effekt auf umliegende Städte und viele andere wünschenswerte Effekte (vgl. Unser Siegen 2021; Trautmann 2018). 

Die Kahlschläge sind eine unliebsame Sichtbarmachung davon, welche direkten Schäden durch unökologisches Wirtschaften entstehen. Was aber, wenn man versucht, eine nicht-menschliche Sicht der Dinge einzunehmen: Zum Beispiel auf den Borkenkäfer? 

Für die Natur, so lässt sich argumentieren, ist der Borkenkäfer kein Schädling; er ist einfach ein Käfer. Das schreibt auch der Landesbetrieb Wald und Holz NRW so:

„Ökologisch haben Borkenkäfer aber durchaus ihre Berechtigung, den Begriff ‚Schädling‘ kennt die Natur nicht. So sorgen Borkenkäfer dafür, dass kränkliche Bäume Platz machen für gesunde; sie sorgen dafür, dass lichtbedürftige Pionier-Arten große Freiflächen finden und sie sorgen dafür, dass Fichten nur dort vorkommen, wo sie dauerhaft große Fitness entwickeln können“ (vgl. Wald und Holz NRW o. D.).

Der Borkenkäfer konnte sich hier vielfach ausbreiten, weil Fichten vielfach ausgebreitet wurden. Ohne aktives Handeln von Menschen würden Fichtenplantagen nicht existieren. Was würde ohne unser Eingreifen wohl passieren? Die Natur würde selbst ein Gleichgewicht wiederherstellen, und der Borkenkäfer trägt seinen Teil dazu bei. Nach und nach würden die Fichtenkulturen weichen und Platz für heimische Bäume machen. In einem gesunden, vielfältigen Ökosystem, welches auf diese Weise entstehen kann, hat der Borkenkäfer kein so leichtes Spiel. Durch gesündere Bäume und weniger Platz verliert er die Grundlage für seine Überpopulation.

Eine solche Veränderung geschieht nicht über Nacht, und auch nicht über zwei, drei oder zehn Nächte; sie braucht Jahrzehnte. Umso wichtiger, dass wir sie bald ermöglichen – indem wir mal nichts tun und die Natur einfach machen lassen. 

Neue Perspektiven sind wertvoll. In Diskursen wird der Versuch, verschiedene Perspektiven einzunehmen, um zu neuen oder differenzierteren Erkenntnissen zu gelangen, in der Regel positiv bewertet (vgl. Schmallenbach 2022). Schmallenbach benennt Perspektivität als Voraussetzung für Deutungskämpfe. Doch Perspektiven sind auch an Machtverhältnisse gebunden: „Nicht alle Akteure im Diskurs können für ihre Perspektiven gleiche Legitimation, gleiche Erfolgschancen auf Durchsetzung oder gleich große Öffentlichkeiten erreichen“ (ebd.). Bis in unsere Gärten reichen diese ungleichen Machtverhältnisse. Schließlich kann sich ein Marienkäfer kaum dagegen aussprechen, wenn jemand Pflanzen mit einem Pestizid des Chemiegiganten Bayer behandelt. Selbst Menschen, die die Perspektive der Käfer und Kleinsttiere eingenommen haben und sich für deren Bestehen – und damit auch unser Bestehen – einsetzen, kommen oftmals nicht gegen Großkonzerne an. Viele aufklärerische Ansätze scheitern: Das Wissen ist längst da, aber es passiert wenig. Es werden weiter fleißig neue Fichtenplantagen angelegt, Ackergifte verteilt und Gärten zugepflastert.

Vielleicht kann also dieser Ansatz zum Nachdenken anregen: Die Geschichte aus der Perspektive der Tiere zu erzählen, die wir sonst als Schädlinge wahrnehmen. 

Das soll natürlich nicht heißen, dass wir uns mit Blattläusen und Schnecken auf unserem Gemüse abfinden müssen. Pestizide sind aber bei weitem nicht der einzige Ausweg; mit ihnen richten wir viel größere Schäden an, als ein paar ‚Schädlinge‘ es jemals könnten. Ökologisches Gärtnern mit genügend Unterschlüpfen wie Holz- oder Laubhaufen wird natürliche Fressfeinde der ‚Schädlinge‘ in den Garten locken. So löst sich das Problem von ganz allein.

Schmallenbach, Joline (2022): Perspektive. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 01.12.2022. URL: https://diskursmonitor.de/glossar/perspektive (Zugriff am 31.08.23).

Trautmann, Andrea M. (2018): Bäume kühlen Städte wie natürliche Klimaanlagen. In: botanikguide.de. URL: https://botanikguide.de/baeume-kuehlen-staedte-wie-natuerliche-klimaanlagen/ (Zugriff am 31.08.23).

Unser Siegen (2021): Die Fichte in der Krise. Der schlagartige Wandel im Wald. Unter: unser-siegen.com. URL: https://unser-siegen.com/fichte-in-der-krise (Zugriff am 31.08.23).

Wald und Holz NRW (o. D.): Borkenkäfer im Fichtenwald Schädling, Waldökologe und Landschaftsgestalter. In: wald-und-holz-nrw.de. URL: https://www.wald-und-holz.nrw.de/forstwirtschaft/borkenkaefer/ (Zugriff am 31.08.23).


Versiegelte Flächen und Schottergärten

Steinwüste planen mit OBI. Adbusting der Autor:innen, nicht im öffentlichen Raum praktiziert.

Ein Screenshot von der OBI-Webseite. Alles ganz normal, oder? Nicht ganz. Wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass etwas nicht stimmt. Würde OBI wirklich mit dem Begriff ‚Steinwüste‘ werben?

Die Antwort: Nein. Die Seite sieht eigentlich so aus:

Vorgarten planen mit OBI. Webseite: https://www.obi.de/beratung-und-planung/gartenplaner/vorgarten

Ein Bild, das Text, Screenshot, Pflanze, draußen enthält.

Automatisch generierte BeschreibungDer Unterschied ist so subtil wie er gravierend ist: Aus dem Vorgarten wird eine Steinwüste, die Bedeutung damit schnell umgedreht. 

Die Aktionsform, die wir hier beispielhaft angewendet haben, nennt man Adbusting. Bei dem Begriff handelt es sich um eine englischsprachige Wortneuschöpfung, die sich aus der Kurzform ‚ad‘ für Werbung und dem Verb ‚to bust‘, also zerschlagen, zusammensetzt (vgl. Smolarski 2017, S. 213). Es geht bei Adbusting demnach um „Umgestaltung, Verfremdung oder Zerstörung von Außenwerbung“ (ebd., S. 214) mit dem Ziel der „Werbebotschaftsveränderungen“ (vgl. Beaugrand, Smolarski 2016, S. 6f) – also, so Steffen Pappert, „weniger um die Etablierung von Gegendiskursen, sondern vielmehr um kreative Umdeutung bereits vorhandener Werbekommunikate, die als Zeichen der herrschenden Ordnung angesehen werden“ (Pappert 2021).

So auch bei uns. Das OBI-Adbusting spielt mit einer einzigen Wortänderung der Originalwerbung. Die Botschaft wird auf zweierlei Weise verändert: Zum einen geht es darum, auf den Negativtrend von versiegelten Flächen im Vorgarten aufmerksam zu machen. Zum anderen wird damit gleichzeitig auch Kritik an OBI selbst geübt; auf dem Foto ist viel versiegelte Fläche zu sehen – und selbst die begrünte Fläche ist als steriler Rasen ökologisch kaum wertvoll. Natürlich ist die Werbung darauf ausgerichtet, Menschen anzusprechen; immerhin soll auch mit dem Vorgartenplaner Profit für das Unternehmen generiert werden. Man kann davon ausgehen, dass die Werbung sich deshalb an aktuellen Trends orientiert. Dennoch muss man an dieser Stelle die Frage nach Verantwortung stellen: Kann die Profitorientierung eines Unternehmens wichtiger sein als die ökologische Bedeutung derer Projekte, die sie mitumsetzen?

Beim Adbusting geht es grundsätzlich immer auch darum, bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzudecken (vgl. Pappert 2021). Diese können von verschiedenen Instanzen ausgehen, zum Beispiel von Konzernen oder Politiker:innen und deren Parteien.

Dabei können verschiedene Techniken angewandt werden: Verändern und Ersetzen, aber auch Kommentieren von Werbeplakaten oder das Parodieren einzelner Werbungen sind einige der gängigen Methoden. Auch die Verbreitung von Antiwerbung gehört dazu (vgl. Pappert 2021). Das kann dann zum Beispiel so aussehen:

Den Steingarten aufgeben – die Natur soll weiterleben. Adbusting der Autor:innen, nicht im öffentlichen Raum praktiziert.
Steingärten bedrohen Ihre Gesundheit. Adbusting der Autor:innen, nicht im öffentlichen Raum praktiziert.

Wer sich in den letzten Jahren Tabakwaren angeschaut hat, dem wird die Ähnlichkeit auffallen. Die Warnhinweise am oberen Rand der Bilder orientieren sich nämlich an den Warnhinweisen, die man heute auf Zigarettenschachteln und Co. findet, sowohl optisch als auch inhaltlich. Die Originalhinweise lauten jeweils: „Das Rauchen aufgeben – für ihre Lieben weiterleben“ und „Rauchen bedroht Ihre Potenz“. Durch das Umschreiben und Übertragen von den Warnhinweisen auf versiegelte Flächen werden diese problematisiert. Gleichzeitig wird auf reale Folgen hingewiesen, die zum Beispiel durch Steingärten entstehen oder verschlimmert werden. Zwar mögen sich Steingärten nicht so merklich auf unsere Gesundheit auswirken wie das Rauchen, aber unser Wohlbefinden, die Natur und das Klima werden davon negativ beeinträchtigt. Die gesundheitlichen Folgen vom Rauchen sollen damit keineswegs relativiert werden; vielmehr geht es darum, versiegelte Flächen adäquat zu verhandeln und als Problem wahrnehmbar zu machen. Denn sie führen zur stärkeren Erhitzung von Gebäuden und Umgebung und tragen somit auch zu den steigenden Hitzetoden bei. Die Verantwortung liegt in diesem Fall nicht nur bei einem unsympathischen Großkonzern, sondern auch bei Privatpersonen.

 „Wenn Sie rauchen, schaden Sie Ihren Kindern, Ihrer Familie, Ihren Freunden.“ Mit Steingärten ebenso. Adbusting der Autor:innen, nicht im öffentlichen Raum praktiziert.

Viele Menschen, die Steingärten anlegen, tun dies im Unwissen über die ökologischen Konsequenzen. Genau dafür gibt es Adbustings wie diese, die auf die Probleme aufmerksam machen – und zum Beispiel den NABU oder naturgarten.org als Anlaufstellen, die dabei helfen, zu informieren und aufzuklären.

Falls ihr oder jemand in eurem Umfeld einen Schottergarten hat, ist es nie zu spät, ihn ökologisch aufzuwerten. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, denn das Verbot von Schottergärten wird verschärft: Kommunen sollen zukünftig das Schottergarten-Verbot durchsetzen können, wofür ihnen zuvor die Rechtsgrundlage fehlte (vgl. Stock 2023).

Eine hilfreiche Liste von Artikeln haben wir hier für euch zusammengetragen, die den Rückbau erleichtern. Und falls jemand – trotz allem – mit einem Schottergarten liebäugelt, so findet ihr hier pflegeleichte und gleichzeitig ökologisch wertvolle Alternativen. Wie wäre es zum Beispiel mit einem alpinen Kiesgarten, klimaangepasstem Gärtnern, pflegeleichte Alternativen zu Schottergärten, einem biologisch vielfältigen Naturgarten, der Idee, wie Schottergarten abzumildern und ökologisch aufzuwerten sind, wie ein Naturgarten gelingt, oder einer Beispielsammlung von verschiedenen (Umgestaltungs-)Projekten.

Beaugrand, Andreas; Smolarski, Pierre (Hrsg.): Adbusting. Ein designtheoretisches Handbuch. Bielefeld 2016.

Pappert, Steffen (2021): Adbusting. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. URL: https://diskursmonitor.de/glossar/adbusting (Zugriff am 31.08.23).

Smolarski, Pierre: Rhetorik des Designs. Bielefeld 2017.

Stock, Simon (2023): Verbot von Schottergärten verschärft: Änderungen für Hausbesitzer. In: wa.de. URL: https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/anordnung-kosten-ina-scharrenbach-schottergarten-rueckbau-verbot-nrw-gesetz-bauordnung-92334967.html (Zugriff am 31.08.23).


Einordnen, hinterfragen, kritisieren. Der Herrengarten: Das zukünftige „grüne Herz von Siegen“?

Wer in letzter Zeit in Siegen unterwegs war, hat es bestimmt mitbekommen: Der Herrengarten wird umgestaltet. Wo ein Geschäftsgebäude aus den 70er Jahren abgerissen wurde, gab es zwischenzeitlich eine Blühwiese – eine kleine Fläche ‚Natur auf Zeit‘. Und auch diese ist nun gewichen, um Platz zu machen für das, was zukünftig das neue „grüne Herz von Siegen“ sein soll. So jedenfalls heißt es im Erläuterungstext zum Bauvorhaben, den die Landschaftsarchitekten der Agentur Rehwaldt verfasst haben. Sie sind es, die den ersten Platz (und damit ein Preisgeld von 17.000 Euro und den Zuschlag der Universitätsstadt) im Wettbewerb zur Umgestaltung des Herrengartens erhalten haben. Der Herrengarten als öffentliche Stätte, welche Menschen anziehen und die Stadt attraktiver machen soll, wird durch die öffentlichen Verfahren um den Umbau zu einem interessanten Diskursort. Denn es ist längst bekannt, wie wichtig es ist, Städte nachhaltig und klimaresilient zu gestalten: Zum Beispiel die wachsende Hitzebelastung betrifft uns alle.

Abbildung 1: Ein Blick auf die Webseite der Rehwaldt Landschaftsarchitekten. Versiegelte Flächen, kein Schatten in Sicht: Klimaresilienz ist nicht zu finden. Quelle: www.rehwaldt.de. Zugriff am 11.07.23.

In der Beurteilung vom Preisgericht heißt es: „Parallel zu einem schmalen inneren Rundweg aus wassergebundener Decke bieten bandartige Stauden- und Gräserpflanzungen den gewünschten Blühaspekt bei guter Pflegbarkeit und noch zu belegender ökologischer Qualität.“ Und auf der Seite der Stadt selbst wird sogar von einer „hohe[n] ökologische[n] Qualität“ der Pflanzen gesprochen. Im eigenen Erläuterungstext von Rehwaldt hingegen kommen Begriffe wie ‚ökologisch‘ und ‚nachhaltig‘ nicht vor.

Welchen ökologischen Wert das ‚neue grüne Herz von Siegen‘ neben Stauden- und Gräserbepflanzung haben soll, geht aus der Beurteilung nicht hervor; andere Elemente wie das Mobiliar, welches aus Beton bestehen soll und sich somit negativ auf die CO2-Bilanz auswirken wird, werden nicht erwähnt. Dabei ist längst bekannt, wie wichtig es ist, Städte nachhaltig und klimaresilient zu gestalten.

Der Diskursstrang in puncto Nachhaltigkeit lässt sich weiterverfolgen: Beschlüsse und Abstimmungen zu den Bauvorhaben sind im Netz öffentlich zugänglich. So geht aus der Verwaltungsvorlage (vgl. Vorlage Nr. VL 241/2021) neben den Gesamtkosten von 3,7 Mio. Euro auch ein Befund zur Klimarelevanz hervor. Angekreuzt ist hier: „Klimarelevant: Ja, positiv. Veränderung CO2-Emissionen: Geringe Reduktion“. Begründet wird dies durch „Neupflanzung von Bäumen“ und „Verbesserung des Stadtklimas durch Anlage einer Grünfläche statt massiver Bebauung“.

Der positive Effekt auf das Stadtklima, welches durch die Begrünungsmaßnahmen erreicht wird, ist ganz bestimmt zu begrüßen, und auch die schattenspendenden Bäume werden der einen oder anderen Person im Sommer in der Innenstadt guttun. Doch kann man kurzfristig wirklich von einer positiven Klimarelevanz sprechen, wenn weder die CO2-Emissionen während der Bebauungsmaßnahmen noch das Mobiliar aus Beton – einem der global gesehen größten Emittenten von CO2 – in die Rechnung mit eingehen? (Die Bemusterungsmappe verrät: Sandstein wäre eine Alternative zu den Betonmauern und -sitzen, würde aber ungefähr das Dreifache kosten.)

Und auch die Bepflanzung ist in dieser Rechnung nicht außen vor zu lassen. Wie genau soll der Herrengarten begrünt werden? Auf der Webseite der Stadt ist von „Klimabäumen“ und roten Blühpflanzen die Rede, welche „an die exotische Bepflanzung des historischen Herrengartens“ erinnern sollen – einem Lustgarten mit kolonialer Vergangenheit, welche im Bauvorhaben nicht reflektiert wird.[5] Es entsteht der Eindruck, dass eher die ästhetische als die ökologische Qualität im Vordergrund steht. Weil uns die Informationen zu vage waren, haben wir uns mit einer Anfrage direkt an die Stadt gewendet: Die von Rehwaldt vorgeschlagenen Bepflanzungskonzepte wurden geändert, heißt es in der Antwort, doch genauere Informationen müsse uns die Grünflächenabteilung geben, an die unsere E-Mail freundlicherweise weitergeleitet wurde. Eine Antwort haben wir bis dato leider nicht erhalten.

Dabei ist transparente Kommunikation hier so wichtig: Die Stadt könnte zeigen, wie sie verantwortungsvoll und zukunftsorientiert mit den Steuergeldern der Bürger:innen umgeht; zeigen, dass das „grüne Herz von Siegen“ ökologischen Wert und Nachhaltigkeit ernst nimmt; zeigen, dass die Stadtplanung zukunftssicher ausgelegt ist.

Stattdessen sehen wir uns konfrontiert mit einem Landschaftsbüro, welches mit versiegelten Flächen wirbt, Bepflanzung mit unklarer ökologischer Qualität, und Beton. Immerhin: Es soll ein Park entstehen, wo früher ein Gebäude stand. Nachdem im August 2023 nun die Bagger angerückt sind, um das Ende der Natur auf Zeit einzuläuten, bleibt zu hoffen, dass das „grüne Herz von Siegen“ auch im Herzen grün ist – und nicht Greenwashing im Herzen Siegens.


Endnoten

[1] Wer sich vertieft mit dieser Thematik beschäftigen möchte, dem empfehlen wir wärmstens das Buch Wildlife Gardening: Die Kunst, im eigenen Garten die Welt zu retten vom Entomologen Dave Goulson.

 [3] Übrigens: Der Ausdruck ‚Schädling‘ hat eine lange und düstere Geschichte hinter sich. So haben die Nazis zur Zeit der NSDAP von ‚Volksschädlingen‘ gesprochen. Mit dem Begriff geht eine ganz bestimme Semantik einher: Personen werden mit Ungeziefer gleichgestellt und entmenschlicht. Da sie Schaden anrichten, wird eine ‚Vernichtung‘, ‚Bekämpfung‘ oder sogar ‚Ausradierung‘ legitimiert. Mehr zur Funktion von Feindbegriffen könnt ihr hier lesen: https://diskursmonitor.de/glossar/freund-und-feind-begriffe/.

[4] Mehr dazu und zu den ökologischen Zusammenhängen könnt ihr in Dave Goulsons Buch Stumme Erde: Warum wir die Insekten retten müssen (2022) lesen.

[5] Einen kurzen Überblick über die Entstehung des Herrengartens findet ihr hier: https://wiki.zeitraum-siegen.de/orte/herrengarten. Auch im Wikipedia-Artikel zum Siegener Krönchen lassen sich einige Informationen über die kolonialen Hintergründe finden: https://de.wikipedia.org/wiki/Krönchen .

Illustrationen

 Illustrationen von Ylva Staudigel