Barrierefreiheit für alle – Wie blindenfreundlich ist Siegen?

Text: Felix Norkeit

1. Stadtplanung und Mobilität heute

Autos dominieren in unserer heutigen Zeit in bisher nie dagewesenen Ausmaß unser Städtebild. So stieg etwa die Zahl der PKW-Neuzulassungen in 2022 um 1,1% gegenüber dem Vorjahr (vgl. Kraftfahrtbundesamt). In Anbetracht der inzwischen langen Geschichte des Automobils scheint es wenig verwunderlich, dass die Infrastruktur deutscher Städte heute daher auch primär auf den Individualverkehr ausgerichtet ist. Während das Automobil seit Beginn seines Siegeszuges in den 1920er und 30er Jahren mit der Zeit zum Symbol eines glücklichen und erfolgreichen Lebens, sowie zu einem Paradebeispiel für erfolgreiche wirtschaftliche Wachstumsmodelle wurde, steht heutzutage außer Frage, dass wir es mittlerweile mit einem „zu viel“ an Fahrzeugen zu tun haben, die nicht nur zu viel Platz verbrauchen, sondern zudem zu einem Großteil der Zeit nicht mal verwendet werden (vgl. Canzler & Knie 2019: 9 ff.). Diese strukturellen Probleme, die mit dieser Fokussierung auf Individualverkehr einhergehen, werden dabei primär in den Städten sichtbar. Während anderorts in Europa, etwa in London, Paris und Barcelona, bereits erste Anzeichen eines unvermeidlichen Wandels erkennbar sind, bei dem große Verkehrsstraßen in Fahrrad- und Fußgängerwege umgewandelt werden, wodurch sie sich gleichzeitig zu umweltfreundlichen und ökologischen Zonen entwickeln, bleibt dieser Wandel hierzulande scheinbar aus. Während Paris beispielsweise plant, bis 2025 rund 170.000 Bäume zu pflanzen, lassen sich in Deutschland gegenwärtig sogar offensichtlich rückschrittliche Entwicklungen erkennen, wie es etwa die aktuelle Entscheidung zum Stopp des Ausbaus der Fahrradinfrastruktur in Berlin zeigen (Brändle 2021).

In diesem Kontext verdeutlichen Studien zudem, dass Städte mit vielen Grünflächen  und weniger asphaltierten Straßen eine geringere Boden- und Lufttemperatur aufweisen (vgl. Edmondson et al. 2016: 1 ff.). In Anbetracht der voranschreitenden Klimakrise und der damit einhergehenden hohen Anzahl an Hitzetoten jedes Jahr, welche zudem vor dem Hintergrund des steigenden Durchschnittsalters in den kommenden Jahren weiter steigen wird, erscheint eine städtebauliche Neuausrichtung mehr als sinnvoll. Die negativen Auswirkungen und Spuren, die die bis heute andauernde Fokussierung auf das Automobil als primäres Fortbewegungsmittel mit sich bringt, betreffen dabei nicht nur Menschen, die selbst auf das Auto angewiesen sind. Der Verkehr ist dabei zu einer Routineangelegenheit geworden, die ohne großes Nachdenken zu funktionieren hat (vgl. Canzler & Knie 2019: 7). Dies mag für viele von uns zutreffen, jedoch gibt es auch einen großen Anteil an Menschen in der Bevölkerung, die überhaupt keine andere Wahl haben, als sich über eine solch scheinbare Routineangelegenheit Gedanken machen zu müssen.

So schreibt das Umweltbundesamt im Jahr 2020 in diesem Zusammenhang:

„Der Verkehrssektor ist der einzige Sektor in Deutschland, in dem die Treibhausgasemissionen praktisch unverändert hoch sind. Und er gehört zu denjenigen Bereichen des alltäglichen Lebens, in denen eine gleichberechtigte Teilhabe für alle häufig nicht sichergestellt ist. Anders gesagt: Das deutsche Verkehrssystem ist sowohl unter ökologischen als auch unter sozialen Gesichtspunkten dringend reformbedürftig“ (Frey et al. 2020: 6).  

Die Autor/innen betonen in diesem Zusammenhang außerdem die Notwendigkeit eines barrierefreien, öffentlichen Raumes, beispielsweise durch attraktive und barrierefreie Fußwege, deren Erfordernis zudem in Anbetracht des demografischen Wandels ohnehin bereits ersichtlich ist (vgl. ebd.: 10). Die Städteplanung der Zukunft und Gegenwart spielt somit nicht nur im Kontext von Klimaschutz eine zentrale Rolle. Gleichermaßen gilt es einen barrierefreien öffentlichen Raum zu schaffen, bei dem nicht länger alleinig das Automobil, sondern eine flächendeckende Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer, die größte Rolle spielt. Diesbezüglich schreiben etwa Kuhnhenn et al. (2020) vom Konzeptwerk neue Ökonomie in ihrer Zukunftsvision für das Jahr 2048:

„2048 gehört es dazu, dass Menschen mit Beeinträchtigungen soweit wie möglich ermächtigt werden, am gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Leben teilzuhaben und Tätigkeiten nachzugehen, die ihnen wichtig sind. Der große Autonomiegewinn, den viele Menschen erhalten haben, ist auch durch eine städtebauliche Neuausrichtung möglich. Straßen, Wohnhäuser, Busse, Züge, viele Erholungsgebiete, schlicht die gesamte Infrastruktur, wurde barrierefrei umgestaltet.“ (Kuhnhenn et al. 2020).

Mein Projekt fokussiert sich in diesem Kontext dabei spezifisch auf Erblindete bzw. Menschen mit beeinträchtigtem Sehvermögen, deren Fortbewegung und die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen uns oftmals gar nicht bewusst sind. So kritisiert beispielsweise Andreas Wohlfarth, der Präsident der Architektenkammer Sachsen: „Menschen mit Einschränkungen sind nicht behindert, sondern sie werden behindert – durch eine gebaute Umwelt, die durch Ausrichtung an einen vermeintlichen Normalnutzer alle anderen ausschließt“ (Wohlfahrt, zit. nach Hoff 2021). Dass dieser Teil der Bevölkerung einen weitaus größeren Teil ausmacht, als man vielleicht zunächst annehmen mag, verdeutlichen Zahlen des Statistischen Bundesamts. Demnach lebten 2021 ca. 71.260 vollständig blinde, 48.820 hochgradig sehbehinderte, und 440.645 sehbehinderte Menschen in Deutschland (DBSV). Im folgenden Kapitel soll daher näher auf die Probleme und Einschränkungen bei der Fortbewegung eingegangen werden, mit denen sich Blinde potentiell konfrontiert sehen können.

2.    Blindengerechte Infrastruktur: Probleme bei der Fortbewegung

Für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen gibt es eine Reihe von potentiellen Gefahren und Problemen, die mit einer nicht barrierefreien Städteplanung verknüpft sind. Eines der größten Gefahrenpotentiale stellen diesbezüglich Kreuzungen und Fußgängerübergänge dar, welche nicht ausreichend an die Bedürfnisse von Erblindeten angepasst sind, da es an diesen Stellen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Unfällen mit anderen Verkehrsteilnehmern kommen kann. Ebenso können Hindernisse auf Gehwegen, etwa in Form von Objekten wie Werbetafeln oder Restaurantmobiliar, aber auch Unebenheiten oder Schlaglöcher, ein Problem bei der Fortbewegung darstellen (Schweizerischer Blindenbund 2019). Zudem weist der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband darauf hin, dass gemeinsame Gehwege, die sowohl von Fahrradfahrern, als auch von Fußgängern benutzt werden dürfen, ein erhebliches Problem darstellen. Bedingt ist dieses Konfliktpotential dabei durch die unterschiedlichen Fortbewegungsgeschwindigkeiten von Radfahrern und Fußgängern. Daher appelliert der Verein daran, Radwege, insbesondere an Fußgängerquerungen, auf Fahrbahnniveau anzulegen. Ebenso sollen Zebrastreifen nicht nur über die Autofahrbahn, sondern auch über Radwege verlaufen, damit Fußgängern an diesen Stellen Vorrang gewährt wird (DBSV 2020). Der hohe Lärmpegel, den  motorisierte Fortbewegungsmittel meist erzeugen, übertönt zudem oftmals die deutlich leiseren Fahrräder, sodass beispielsweise akustische Signale von Fahrradklingeln nur schwer wahrgenommen werden können.

Eine wichtige Rolle bei der Gewährleistung von Sicherheit im Hinblick auf die genannten Konfliktpotentiale  und Gefahren spielen diesbezüglich sogenannte Bodenleitsysteme, welche sich aus optisch und taktil kontrastierenden Bodenindikatoren (Rillen oder Noppen) zusammensetzen. Diese können dabei von Betroffenen zur sicheren Fortbewegung mit Hilfe ihres Blindenstocks ertastet werden. Die notwendige Beschaffenheit von Bodenleitsystemen ist dabei seit 2000 durch die „DIN-Norm 32984 – Bodenindikatoren im öffentlichen Raum“ genauestens vorgegeben. Generell bestehen sie aus sogenannten Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfeldern. Erstere können von den Benutzern als eine Art Führungshilfe verwendet werden, mit der sie zu wichtigen Zielen gelangen und Hindernisse umgehen können. Diesbezüglich konnte durch eine Studie belegt werden, dass Leitstreifen den Erblindeten dabei helfen, eine gerade Gehrichtung beizubehalten, wodurch sich unter anderem auch die Zeit zum Überqueren von Fußgängerübergängen reduziert (vgl. Ma et. al. 2021). Aufmerksamkeitsfelder hingegen erfüllen einen vielfältigen Zweck. Sie bestehen aus sogenannten Bodenindikatoren, meist in Noppen-Form, welche beispielsweise dazu dienen können, auf Verzweigungen, Richtungswechsel, oder Fahrbahnquerungen hinzuweisen. Ebenso können sie den Beginn eines Blindenleitsystems markieren, oder weisen auf seitlich gelegene Ziele (Aufzüge, Haltestellen) hin. Am häufigsten anzutreffen sind solche Bodenleitsysteme etwa an Bahnhöfen oder Bushaltestellen, in Fußgängerzonen, oder Fußgängerampeln. Durch ihren Einsatz soll so letztlich  verhindert werden, dass Erblindete durch mangelnde taktile Informationen beispielsweise auf die Fahrspuren anderer Verkehrsteilnehmer geraten, oder mit anderen Fußgängern kollidieren. Bodenleitsysteme leisten somit einen wichtigen Beitrag für die Unabhängigkeit, Mobilität, Sicherheit, und das Selbstvertrauen von Erblindeten Menschen.

Abbildung 1: Musterbeispiel für eine Fußgängerkreuzung mit Bodenleitsystem, Fahrradweg auf Fahrbahnniveau, und Zebrastreifen, welcher über den Radweg verläuft. Quelle: DBSV 2020.              

Neben taktilen Informationen können zudem akustische Signale übermittelt werden, die als zusätzliche Hilfe an Fußgängerampeln über die Dauer der Grünphase informieren. Die akustischen Signale können jedoch unter Umständen von beispielsweise Anwohnern in unmittelbarer Nähe als störend empfunden werden, weshalb solche Systeme oftmals nur am Tag und nur in Gewerbegebieten oder an großen Kreuzungen verwendet werden (vgl. Aranda & Mares 2004: 454).

Problematisch kann die Fortbewegung für Erblindete somit insbesondere dann werden, wenn solche Leitsysteme und Signale an zentralen Kreuzungen oder Fußgängerwegen fehlen und die Betroffenen sich daher primär auf andere Formen der Unterstützung verlassen müssen. Dass es jedoch keine perfekte Lösung für sämtliche Alltagssituationen gibt, weshalb eine barrierefreie Infrastruktur umso wichtiger ist, soll in den folgenden Kapiteln verdeutlicht werden.

3.   Fortbewegungsassistenten für erblindete Menschen

Die eigene Wohnung problemlos verlassen zu können, um etwa einen Beruf auszuüben oder um Freizeitaktivitäten nachzugehen, gehört für einen Großteil der Bevölkerung zu den gewöhnlichen Alltagsaktivitäten, über die man sich wenig Gedanken machen muss, da unsere physische Umwelt primär auf die visuelle Wahrnehmung ausgelegt aus (vgl. Geese 2018: 153). Für Blinde funktioniert diese Orientierung auf Basis von Visualität jedoch nicht. Umso wichtiger ist für Betroffene, dass sie frühzeitig über etwaige Hindernisse informiert werden. So gibt es etwa diesbezüglich drei gängige Formen von Mobilitätsassistenten, nämlich die menschliche sehende Begleitung, den Blindenführhund, sowie Langstöcke (vgl. ebd.: 154). All diese Unterstützungsformen bringen dabei verschiedene Vor- und Nachteile mit sich. Die weitverbreitetste der drei ist dabei der Langstock. Durch Berührung und abtasten des Bodens mit Hilfe der Stockspitze können blinde Menschen taktile Informationen, hinsichtlich der Beschaffenheit ihrer Umwelt, sammeln, um so Hindernissen aus dem Weg gehen zu können. Anders als bei Begleithunden und Begleitpersonen fällt die erblindete Person selbst die Entscheidung, wie sie das Hindernis umgehen möchte. Wenngleich dieses Hilfsmittel einen großen Autonomiegewinn mit sich bringt, gibt es dennoch eine Reihe von Nachteilen. So kann mit dem Stock etwa nur auf Hindernisse reagiert werden, die sich am Boden mit dessen Hilfe ertasten lassen. Hindernisse auf Kopfhöhe, wie etwa Straßenschilder, werden so nicht bemerkt. Zudem zeigt eine Studie von Marion Hersh, dass bei der Benutzung von Langstöcken oftmals auch Faktoren wie Schamgefühle und Angst vor negativen Reaktionen eine Rolle spielen (Hersh 2015: 103). Zudem gibt es zwar verschiedene Stockmodelle (ausklappbar, ausziehbar und einteilig) jedoch stellt keines von ihnen eine universelle Lösung für sämtliche Alltagssituationen dar. Zudem kann es unter Umständen zu Berührungen von anderen Menschen mit dem Stock kommen, was eventuell als unangenehme Situation empfunden werden kann (vgl. Chanana et al. 2017: 1).

Die zuverlässigste Assistenz bei der Fortbewegung stellt dabei die menschliche Unterstützung dar, da das eigene beeinträchtigte Sehvermögen durch das der anderen Person ergänzt wird und wodurch letztlich rechtzeitig auf Gefahren und Hindernisse reagiert werden kann. Das größte Problem dieser Art der Fortbewegung ist jedoch, dass sie permanent von der Verfügbarkeit einer Begleitperson abhängig ist, was im Alltag oftmals nicht gewährleistet werden kann, auch nicht etwa von Familienmitgliedern oder Freunden. Ebenso bringt auch die Unterstützung durch Passanten Probleme mit sich. Neben der Tatsache, dass zunächst überhaupt erst andere Personen zum Helfen verfügbar bzw. vor Ort sein müssen, werden Hilfegesuche von sehenden Menschen gewöhnlich im ersten Schritt durch Blickkontakt eingeleitet, was für Blinde ebenfalls nicht möglich ist (vgl. Geese 2018: 155 f.). Blindenhunde können in diesem Zusammenhang eine sinnvolle Alternative zu menschlichen Begleitpersonen darstellen. Anders als der Langstock, welcher dazu dient, Hindernisse zu erkennen, dienen Führhunde dazu, diese zu umgehen, sodass der Hundehalter gar nicht erst in Kontakt mit ihnen kommt. Ebenso sind solche Hunde dazu in der Lage, ihren Besitzer auf Anweisung hin zu bestimmten Objekten zu führen, was vor allem in unbekannten Umgebungen von Relevanz ist (vgl. ebd. 168). Neben dem offensichtlichen Autonomiegewinn und einem potentiell gesteigerten Selbstwertgefühl durch die vereinfachte Kontaktaufnahme mit anderen Menschen bringen sie jedoch ebenso einige Nachteile mit sich. So kann es etwa zu Situationen kommen, in denen der Zutritt zu bestimmten Gebäuden mit Hunden nicht gestattet ist. Ebenso können Passanten den Hund potentiell durch Ansprache oder streicheln von seiner Arbeit ablenken, da sie ihn primär als Haustier betrachten. Zudem können anderen Personen eventuell allergisch auf Hunde reagieren, was ebenfalls zu Problemen führen kann (vgl. ebd.: 173).

Wie somit deutlich wird, gibt es verschiedene Arten von Unterstützung, die Blinde in ihren Alltag integrieren können. Gleichzeitig wird jedoch ebenso deutlich, dass es keine ideale Lösung gibt, die sowohl einen großen Autonomiegewinn, Zuverlässigkeit, als auch Flexibilität für alle Situationen mit sich bringt. Da zudem eine Veränderung der deutschen Städteinfrastruktur offensichtlich ein langwieriger Prozess zu sein scheint, sind Erblindete jedoch weiterhin im hohen Maße auf barrierefreie Wege und Zugänge angewiesen. Um ihre Autonomie und Sicherheit zusätzlich zu unterstützen, haben sich im Zuge des digitalen Fortschritts in den vergangenen Jahren, bereits verschiedenste Formen von Assistenztechnologien hervorgetan, auf die im folgenden Kapitel kurz eingegangen werden soll.

4. Digitale Assistenten für erblindete Menschen

Nach Lin et al. (2017) lassen sich digitale Assistenzsysteme grundlegend in drei Kategorien einteilen. Die erste Kategorie bilden sogenannte „electronic travel aids“ (ETAs). Dabei handelt es sich um Unterstützungsformen, die primär bei der Vermeidung von Hindernissen, meist durch den Einsatz von Kameras und weiterer Sensortechnologie (RFID, Bluetooth, Ultraschall, Infrarotsensoren), helfen sollen (vgl. Hoang et al. 2015: 54 ff.). Wenngleich eine Unterstützungsform mit Hilfe von Kameras naheliegend scheint, so ergeben sich dennoch einige Probleme im Zusammenhang mit der praktischen Umsetzung. So bedarf es etwa zur Identifizierung von Hindernissen statt herkömmlichen Kameras, wie sie etwa in Smartphones meist verbaut sind, sogenannte Tiefenkameras (depth cameras), die mehr Informationen über den dreidimensionalen Raum bieten können. Da solche Systeme, wie etwa Microsofts „Kinect“, viel Rechenleistung benötigen, sind sie oftmals zu groß und unpraktisch, um eine sinnvolle Ergänzung im Alltag darzustellen. Auch die weiteren Möglichkeiten von Sensortechnologie werden derzeit, wenn überhaupt, nur in Pilotprojekten und zu Testzwecken angewandt. So bedarf es meist einer extensiven Infrastruktur, wie man es etwa am Beispiel von RFID-Chips sieht. Dabei wird am Blindenstock ein RFID-Tag positioniert, welcher mit anderen Chips in der Umgebung kommunizieren kann. Da diese jedoch unterirdisch verbaut werden müssen, wäre eine flächendeckende Umsetzung nur mit enormen Kosten und hohem Aufwand verbunden (vgl. Lin et al. 2017: 2).

Die elektronischen Orientierungshilfen (EOAs) setzen auf ähnliche Technologie, wie die elektronischen Reisehilfen (ETAs), jedoch liegt der Fokus hier, neben dem Vermeiden von Hindernissen, zudem auf der Identifikation der korrekten Routen um zum Ziel zu gelangen. Daher sind auch die Probleme, die mit der Umsetzung dieser Systeme einhergehen, relativ ähnlich: „The limitations of EOAs are […] the incorporation of a complex computing device with a lightweight and real-time guiding device” (Kuriakose et al. 2022: 5).    
Auch die Position Locator Devices (PLDs), welche auf die Verwendung von GPS- und GIS-Daten (geografische Informationssysteme) angewiesen sind, bieten nur bedingt für sich alleine eine sinnvolle Lösung. Zwar kann der Benutzer mit Hilfe der Daten und einer Computerstimme von einem Ort zum anderen geleitet werden, jedoch können auf diese Weise keine Hindernisse auf dem Weg identifiziert werden, ohne dass dabei auf zusätzliche Unterstützungsformen zurückgegriffen werden muss (vgl. ebd.). Zudem besteht das Problem, dass solche Systeme nur bei gut empfangbaren GPS-Signalen funktionieren (vgl. Lin 2017: 2 f.). Ein Beispiel für eine App, die mit Stimmennavigation und GPS-Daten arbeitet, ist etwa „BlindSquare“, jedoch gibt es die App nur für iOS-Geräte, was die allgemeine Nutzbarkeit zusätzlich weiter einschränkt.  Digitale Assistenten stellen insgesamt somit zum aktuellen Zeitpunkt nur bedingt eine sinnvolle Ergänzung zu physischen Unterstützungsformen dar, weil die nötige Infrastruktur oftmals nicht vorhanden ist oder die technische Ausrüstung zu unhandlich wäre.

Die vorangegangenen Kapitel haben somit gezeigt, dass sich Erblindete bei der Navigation innerhalb von Städten mit einer Reihe von Hindernissen und Problemen konfrontiert sehen, für die es bis heute keine universelle Lösung gibt. In dem folgenden Kapitel soll es daher nun um das Projekt „Wie blindenfreundlich ist Siegen?“ gehen, welches thematisch an die hier gezeigten Probleme und Schwierigkeiten bei der Fortbewegung von Erblindeten anknüpft.

5. Barrierefreiheit für alle – Wie blindenfreundlich ist Siegen?

Eine zentrale Leitfrage für mein Projekt lautete:Wie lässt sich auf die Probleme der Siegener Blindeninfrastruktur auf visuelle Weise aufmerksam machen, sodass daraus gleichzeitig von Betroffenen unter Umständen hilfreiche Rückschlüsse auf ihr eigenes Fortbewegungsverhalten innerhalb der Stadt ziehen können? Dabei ging es insbesondere auch um die Frage, an welchen Stellen den Automobilen weitaus mehr Freiheiten und nutzbare Fläche (z. B. in Form von Parkplätzen) gewährt werden, als Fußgängern. Dabei sollten so schließlich die Fragen geklärt werden, wie blindenfreundlich die Siegener Stadtinfrastruktur tatsächlich ist und inwieweit der Automobilverkehr in Siegen im Vergleich zur Fußgängerfreundlichkeit bevorzugt behandelt wird. Dieses Projekt zielt darauf ab, Bewusstsein für die Herausforderungen und Ungleichheiten in der städtischen Gestaltung und Planung zu schaffen. Zudem kann es möglicherweise als Denkanstoß für Verbesserungen und Maßnahmen im Hinblick auf Barrierefreiheit und eine klimafreundlichere Gestaltung deutscher Städte am Beispiel Siegen dienen.

Als Inspiration für das Forschungsprojekt diente mir die sogenannte „Wheelmap“. Wheelmap.org ist eine Online-Plattform und interaktive Karte, die Informationen über die Barrierefreiheit von öffentlichen Orten und Einrichtungen bereitstellt. Die Hauptzielgruppe sind Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, insbesondere Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer. Ziel meines Projekts war es daher ebenfalls, mit Hilfe einer interaktiven Map, problematische und potenziell gefährliche Stellen in Siegen zu markieren und visuell darzustellen, die insbesondere für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen Hindernisse darstellen können. Die Visualisierung der Bereiche erfolgte dabei mittels eines einfachen 3-Stufen Systems, bei dem die roten Zonen die besonders problematischen und gefährlichen Bereiche abbilden. An diesen befinden sich zudem einzelne Marker, die per Mausklick ein Foto von den jeweiligen Gegebenheiten vor Ort abbilden. Zentrale Faktoren die bei der Markierung und Kategorisierung der verschiedenen Bereiche eine Rolle spielten, leiteten sich dabei aus den bereits erwähnten Problemen ab, die mit einer schlecht ausgebauten Infrastruktur für Fußgänger und insbesondere Erblindete einhergehen. Dazu zählen fehlende Bodenleitsysteme oder akustische Signale an Fußgängerkreuzungen, Blockierte Gehwege durch beispielsweise parkende Autos, sowie andere Gefahren, wie Schlaglöcher im Boden, die zu Problemen bei der Fortbewegung führen können. 

6. Ergebnisse

Zunächst einmal wurde mir bei der Durchführung meines Projektes bewusst, mit welcher Selbstverständlichkeit wir uns als sehende Menschen durch Städte bewegen können, ohne uns Gedanken darüber zu machen. Ein Blick auf die Map lässt diesbezüglich bereits erahnen, wie umfangreich und vielfältig die identifizierten Problemstellen innerhalb der Stadt Siegen sind. Im Folgenden soll daher genauer darauf eingegangen werden, bevor im Anschluss daran mein Fazit zur Blindenfreundlichkeit der Siegener Infrastruktur folgt.

Die Map kann über folgenden Link geöffnet werden:           
https://umap.openstreetmap.fr/de/map/unbenannte-karte_961157#17/50.87280/8.01851

Abbildung 2: Screenshot meiner Map

Wie mein Projekt insgesamt verdeutlicht hat, gibt es in der Siegener Innenstadt noch großes Potential zum Ausbau von blindengerechten Fußgängerwegen, was die Vielzahl an problematischen und unter Umständen gefährlichen roten Zonen auf der Map verdeutlicht. Besonders auffällig war diesbezüglich, in welchem Ausmaß dem Automobil ganz offensichtlich bis heute Vorrang gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern gewährt wird. So ließen sich beispielsweise mehrere Punkte identifizieren, an denen Gehwege aufgrund von parkenden Autos komplett oder beinahe vollkommen unpassierbar sind. Hier sind einige Beispiele zu sehen, die dies eindrücklich verdeutlichen:

 Abbildung 3: Eigene Aufnahme
 Abbildung 4: Eigene Aufnahme
 Abbildung 5: Eigene Aufnahme

An diesen Stellen wird besonders die eingangs erwähnte vorherrschende Dominanz des Individualverkehres in unseren Städten sichtbar. Parkplätze wie diese nehmen dabei, im Hinblick auf die gesamte Stadt, Unmengen an Raum ein, der zum einen für Fußgänger und Menschen mit Behinderungen nicht sicher genutzt werden kann, und zum anderen auch anderweitig, beispielsweise für kleinere Grünanlagen hätte genutzt werden können.

 Abbildung 6: Eigene Aufnahme

Ein zweiter bemerkenswerter Aspekt, der im Hinblick auf die roten Bereiche der Map sichtbar wurde, ist die schlecht ausgebaute Infrastruktur für Erblindete rund um die Universitätsgebäude „Herrengarten“ und „Unteres Schloss“. Bei ersterem befinden sich etwa unmittelbar vor dem Eingang mehrere Metallpfosten und eine Eisenkette zur Absperrung eines Parkplatzes, was für Erblindete zur Stolperfalle werden kann. Zwar handelt es sich hier um ein offensichtliches Negativbeispiel, jedoch sei erwähnt, dass der Siegener Herrengarten und der Bereich drumherum, zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Texts, durch einen vollständigen Umbau neu gestaltet werden. In Anbetracht der Umbaupläne für diesen zentralen Versammlungsort in der Siegener Innenstadt, mit seiner unmittelbaren Nähe zur Universität und zur Fußgängerzone, scheint sich dieses einstige Negativbeispiel im Zuge dessen offenbar zu einem Beispiel für positive Entwicklungen, hin zu einer blindengerechteren und weniger auf PKW fokussierten Infrastruktur, zu wandeln. So schreibt die Stadt Siegen auf ihrer Website im Zusammenhang mit den Umbaumaßnahmen:

„Im Straßenbereich schließt das Pflaster an die Umgebung an und bildet eine Einheit. Außerdem werden taktile Elemente in die umliegenden Straßen integriert. Die Straßen rund um den Herrengarten werden nicht mehr mit Autos befahren werden können“ (Stadt Siegen 2023). 

 Abbildung 7: Eigene Aufnahme
 Abbildung 8: Eigene Aufnahme
 Abbildung 9: Eigene Aufnahme

Zwar bleibt abzuwarten, wie genau diese taktilen Elemente eingesetzt und integriert werden, jedoch ist davon auszugehen, dass diese an die Leitlinien der Fußgängerzone entlang der Sieg anknüpfen werden, wodurch auch der Eingang des Universitätsgebäudes gefahrlos erreichbar wäre. Die Tatsache, dass Autos diesen Bereich zukünftig nicht mehr befahren dürfen und zudem eine Grünanlage dort vorzufinden sein wird, ist dabei ebenfalls sehr begrüßenswert. In Anbetracht der restlichen Universitätsgebäude wäre ein solcher Wandel in diesem Zusammenhang ebenfalls mehr als sinnvoll, da sich insbesondere etwa um den Bereich rund um das Untere Schloss erhebliche Mängel, im Hinblick auf eine barrierefreie Infrastruktur, feststellen ließen. Neben den ebenfalls fehlenden Bodenleitsystemen sind hier jedoch nicht Parkplätze und PKW das Problem, sondern viel mehr die Beschaffenheit des Bodens und damit einhergehend die generelle gefahrlose Zugänglichkeit dieses Ortes.  Diesbezüglich ließen sich etwa große Schlaglöcher und eine äußerst baufällige Treppe auf dem direkten Weg vom Kölner Tor zum Uni-Gebäude feststellen. Ebenso findet man auf dem großen Platz vor dem Gebäude, sowie auf besagtem Weg, weitestgehend Kopfsteinpflaster vor, welches ohnehin für Erblindete ein Hindernis darstellen kann, was durch die hier ersichtlichen baulichen Mängel zusätzlich verstärkt wird (Noll 2013; Titze 2023):  

Weiterhin wird im Hinblick auf die roten Bereiche der Map deutlich, dass diese auch rund um den Siegener Hauptbahnhof, also einer zentralen Anlaufstelle für Menschen, die nicht mit dem Auto reisen, zu finden sind. So befinden sich etwa sämtliche Bushaltestellen in diesem Bereich auf einer großen Verkehrsinsel. Die einzige Form von Unterstützung beim Passieren der daran angrenzenden Straße soll ein Zebrastreifen darstellen, welcher jedoch kaum noch als solcher zu erkennen ist. Das Passieren dieser Straße kann daher offensichtlich für blinde Personen zu einer Gefahr werden.

Abbildung 10: Wikipedia „Siegen Hauptbahnhof“

Abbildung 11: Eigene Aufnahme

Bemerkenswert ist zudem, dass es zwar rund um den ZOB teilweise ein Leitstreifensystem vorhanden ist, jedoch ist dieses optisch kaum von den restlichen Pflastersteinen zu unterscheiden und auch der generelle Zustand weist erhebliche Abnutzungserscheinungen auf. Offenbar hatte sich daher nicht ganz zu Unrecht, um 1995 herum, das ironische Schlagwort „Blinden-Leidlinien“ etabliert, was betonen sollte, wie schwer die Leitlinien damals für Blinde als solche erkennbar waren (vgl. Böhringer 2014). In diesem Zusammenhang schreibt die DIN-Norm 32984 (vgl. Baunormenlexikon) vor, dass sich Leitstreifen und Bodenindikatoren optisch deutlich abheben müssen, damit sie nicht versehentlich blockiert werden und von Menschen, die noch über ein geringes Sehvermögen verfügen, als solche wahrgenommen werden können. Zudem sollte betont werden, dass sich diese Leitlinien an einem sehr zentralen und wichtigen Ort befindet, nämlich in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes, der Polizei und den Einkaufsmöglichkeiten rund um den ZOB. Aufgrund dessen und wegen der zentralen Lage des Siegener ZOB’s und seiner Funktion als zentraler Verkehrsknotenpunkt für Menschen, die ohne PKW reisen, erscheint eine Umgestaltung für mehr Behindertengerechtigkeit insbesondere in diesem Bereich der Stadt als sinnvoll.      

Abbildung 12: Eigene Aufnahme

Der Siegener Bahnhof besitzt zwar an allen Gleisen Leitlinien, jedoch befindet sich in unmittelbarer Nähe von einem der zentralen Eingänge zahlreiches Restaurantmobiliar und auch die Sinnhaftigkeit des angrenzenden Zebrastreifens ohne jegliche Leitlinien oder Aufmerksamkeitsfelder erscheint mehr als fraglich. Eine Fußgängerampel wäre an einer solch vielbefahrenen Kreuzung eine deutlich sinnvollere Lösung um ungewollte Konflikte zwischen Bussen bzw. PKW’s und Fußgängern zu vermeiden.

Betrachtet man die grünen Zonen auf der Karte, so fällt auf, dass sich diese beinahe ausschließlich im Bereich der Fußgängerzone, vereinzelten Kreuzungen, und den Bahnhofsgleisen befinden. Dort finden Erblindete sowohl Bodenleitsysteme vor, die das Risiko mit Objekten oder Personen zu kollidieren verringern, als auch akustische Signale an den Fußgängerübergängen, was ein sicheres Überqueren der jeweiligen Kreuzungen ermöglicht. Der Gesamtanteil dieser Zonen ist im Vergleich zu den beiden anderen mit Abstand am geringsten. Zudem verdeutlicht eine Schlagzeile der Westfalenpost aus dem Jahr 2021 mit dem Titel „Siegen: Weniger Rücksicht auf Blinde, Leitsysteme blockiert“ (Westfalenpost 2021), dass es offensichtlich auch in den eigentlich blindengerechten Bereichen der Stadt zu Konflikten kommen kann, da Bodenleitsysteme immer wieder blockiert und zugestellt werden. In diesem Zusammenhang stieß ich bei meiner Recherche auf einen weiteren Artikel aus dem Jahr 2018. Darin ist zu lesen, dass zur damaligen Zeit darüber diskutiert wurde, nach dem Vorbild der Städte Bergisch Gladbach und Meschede, an zwei Standorten in Siegen Verkehrsschilder zu platzieren, welche auf das Freihalten von Blindenleitwegen aufmerksam machen (Schwab 2018). Michael Dinter, der damalige Leiter der zuständigen Straßenverkehrsbehörde, konnte jedoch per Mail nicht bestätigen, dass dieses Projekt letztlich umgesetzt wurde und auch auf sämtlichen Wegen, die ich zur Datenerhebung durch die Siegener Innenstadt abgelaufen bin, konnte ich kein Schild dieser Art vorfinden.

Abbildung 13: Kötz, Frieder, d-nb.info

Dass es offenbar Handlungsbedarf in vielerlei Hinsicht gibt, scheint der Stadt somit bewusst. Umso unverständlicher ist daher die Tatsache, dass eine blindengerechte Infrastruktur selbst in den für Fußgänger zentralen Bereichen der Stadt, nur teilweise vorhanden ist.  Ein Beispiel stellt etwa die Alte Poststraße in der Nähe des Museums für Gegenwartskunst dar. Die Entscheidung, ausgerechnet in diesem Bereich der Siegener Fußgängerzone auf ein Bodenleitsystem  zu verzichten, scheint mir dabei mehr als fraglich, da insbesondere hier erhöhtes Kollisionspotenzial mit Restaurantgarnituren und einem Brunnen mit Sitzgelegenheiten, sowie der sich dort befindlichen Bronzestatue „Kuhherde mit Hirte“ von Wolfgang Kreutter, besteht, was eine sichere Navigation unter Umständen zu einer Herausforderung werden lässt.

Abbildung 14: Eigene Aufnahme
Abbildung 15: Eigene Aufnahme
Abbildung 16: Eigene Aufnahme

Abschließend lässt sich im Hinblick auf die roten Bereiche zudem erkennen, dass zahlreiche Kreuzungen, in teilweise zentraler Lage, keinerlei Überquerungshilfen für Erblindete bzw. Passanten im Allgemeinen bieten. Ebenso konnte bei gleich mehreren Bushaltestallen festgestellt werden, dass diese ebenfalls teilweise nicht mit Leitlinien ausgestattet sind, obwohl es sich bei diesen um zentrale und wichtige Anlaufstellen für Erblindete und Menschen ohne PKW im Allgemeinen handelt. Gleiches gilt für Fußgängerampeln, welche an mehreren Stellen innerhalb der Stadt nicht mit akustischen Signalen oder Leitlinien ausgestattet sind.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass es sich bezüglich der Auswahl der Bilder in dieser Arbeit um weniger als die Hälfte der insgesamt identifizierten roten Bereiche handelt. Dies verdeutlicht sehr eindrücklich das Ausmaß der offensichtlichen Problematik.  

Zusammen mit den roten Bereichen machen die gelben den größten Anteil der Map aus. Wenngleich an diesen Stellen keine potentielle direkte Gefahr für blinde Fußgänger durch Hindernisse wie in den roten Bereichen besteht, so findet man hier jedoch ansonsten keine Bodenleitsysteme vor, obwohl es sich teilweise um zentrale Wege in der Siegener Innenstadt handelt. Wenngleich beispielsweise eine flächendeckende Installation von Leitlinien schwer zu realisieren ist, so zeigt der große Anteil der gelben Zonen, die teilweise zentral gelegene Bereiche rund um die Fußgängerzone und den ZOB abdecken, dennoch das große Verbesserungspotential im Hinblick auf eine barrierefreie und integrative Infrastruktur der Stadt Siegen.

7. Fazit

Zusammenfassend zeigt mein Projekt, dass in der Siegener Innenstadt erhebliches Potenzial für die Weiterentwicklung hin zu einer barrierefreien Infrastruktur besteht, die zudem weniger auf den Automobilverkehr ausgelegt ist. Die vielen potenziell problematischen und gefährlichen Bereiche verdeutlichen dabei die Notwendigkeit, die Situation für blinde und sehbehinderte Menschen zu verbessern. Die roten Bereiche rund um den Hauptbahnhof machen dabei beispielsweise mehr als deutlich, dass selbst wichtige Verkehrsknotenpunkte in Siegen für blinde Menschen schwer zugänglich sein können. Insbesondere die hier sichtbar werdende mangelhafte, oder teilweise gänzlich fehlende, barrierefreie Gestaltung von Bushaltestellen und Fußgängerübergängen stellt eine Herausforderung dar, die meines Erachtens keines Falls unmöglich umzusetzen wäre. Denn wenigstens sichere Fußgängerwege und Ampeln, sowie deutlich erkennbare Leitstreifen an zentralen Orten, sind wohl das Mindeste, was von einer modernen, deutschen Universitätsstadt zu erwarten wäre. Schließlich sollte die Fußgängerzone nicht der einzige Bereich der Stadt sein, der von Erblindeten sicheren Weges aufgesucht werden kann.

Besonders auffällig ist zudem die derzeitige Vorrangstellung des motorisierten Individualverkehrs, was unter anderem zu Engpässen auf Gehwegen, und damit zur Entstehung unsicherer, öffentlicher Bereiche für Fußgänger beiträgt. Dieses Problem betrifft dabei nicht nur Erblindete, sondern gleichermaßen auch Menschen mit Rollstuhl, Rollator, oder Kinderwägen. Die Analyse hat diesbezüglich zudem gezeigt, wie viel Raum die Straßen und Parkplätze im gesamten Stadtkontext beanspruchen, der für barrierefreie Fußgänger- und Radwege, sowie für Grünflächen genutzt werden könnte. Zudem wurden mangelhafte Bedingungen für blinde Menschen rund um Universitätsgebäude identifiziert, sei es durch Hindernisse wie Eisenketten und Metallpfosten, die zum Absperren von Parkplätzen vor dem Herrengarten dienen sollen, oder durch mangelhafte Beschaffenheit des Bodens, wie es etwa rund um das Untere Schloss der Fall ist. Durch seine aktuelle Umgestaltung stellt der Herrengarten gleichzeitig jedoch auch eines der wenigen positiven Beispiele dar, die im Rahmen des Projekts identifiziert werden konnten.  Eine solche Umgestaltung des Öffentlichen Raumes führt dabei automatisch dazu, dass sich der öffentliche Straßenraum mit Leben füllt und sich Gelegenheiten zur Kommunikation und Interaktion ergeben (vgl. Aichinger & Frehn 2017: 5). Auch angesichts der voranschreitenden Klimakrise und der hohen Anzahl an Hitzetoten jedes Jahr ist eine Neuausrichtung der städtischen Infrastruktur dringend geboten. Dass es sich bei diesem positiven Beispiel jedoch um eine Ausnahme handelt zeigt jedoch, wie langsam offensichtlich der Entwicklungsprozess voranschreitet.

Die grünen Bereiche auf der Map haben gezeigt, dass es zwar ein Bodenleitsystem gibt, welches einmal durch die gesamte Innenstadt führt, jedoch ist dieses auf einen einzigen durchgehenden Weg begrenzt, der bis auf den Abschnitt entlang der Sieg in der Fußgängerzone, keine Abzweigungen in andere Bereiche der Stadt aufweist. Das Bodenleitsystem und die akustischen Signale machen das Navigieren und Überqueren von Straßen hier sicherer. Im gesamten Stadtkontext machen solche Bereiche einen vergleichsweise geringen Anteil aus, weshalb hieran der erhebliche Handlungsbedarf, der im Hinblick auf eine Verbesserung der  Barrierefreiheit in der Siegener Innenstadt besteht, besonders deutlich wird. Die Stadtplanung sollte sich verstärkt auf die Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen ausrichten und sicherstellen, dass alle Verkehrsteilnehmer gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Verbesserung der Infrastruktur wird nicht nur die Lebensqualität für Menschen mit Behinderungen erhöhen, sondern auch zu einer insgesamt sichereren, inklusiveren und angenehmeren Umgebung für alle Bürger führen. Das Projekt ließe sich natürlich potentiell noch auf andere Städte ausweiten, denn der daraus resultierende direkte Vergleich wäre meines Erachtens in diesem Zusammenhang besonders lohnenswert. Insgesamt ist die Förderung der Barrierefreiheit in eine wichtige Maßnahme zur Schaffung einer inklusiven Gesellschaft, in der alle Bürger gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilhaben können und von der gleichzeitig, durch eine geringere Fokussierung auf den Automobilverkehr, auch der Klimaschutz profitieren kann.

Literatur

Aichinger, Wolfgang; Frehn, Michael (2017): Straßen und Plätze neu denken, Umweltbundesamt (Hrsg.), Fachbroschüre, Bonn.

Aranda, Joan & Mares, Pere (2004): Visual System to Help Blind People to Cross the Street, in: Miesenberger, K.; Klaus, J.; Zagler, W. L.; Burger, D. (Hrsg.), Computers Helping People with Special Needs, ICCHP 2004. Lecture Notes in Computer Science, vol. 3118. Springer, Berlin, Heidelberg.

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Abbildungen

Abbildung 1: Getrennte ungesicherte Querungsstelle an schräg querender Fahrbahn, in: Handbuch „IM DETAIL – Gestaltung barrierefreier Verkehrsraum, 2021.

Abbildung 10: Empfangsgebäude – Blick vom Sieg Carré, wikipedia.org, Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Siegen_Hauptbahnhof#/media/Datei:Siegen_Hbf_2021.jpg [abgerufen am 17.09.2023]

Alle anderen Abbildungen: Fotos oder Screenshots von Felix Norkeit.