
Text: Jan Schulte
Was ist Kolonialismus?
„Im Grunde genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz. […] Nun aber hat die Erfahrung und die Geschichte aller Kolonien gelehrt, dass, sobald Europäer […] in dem fremden Lande Boden fassen, und das Land nach den verschiedensten Richtungen nach Möglichkeit ausbeuten, die schlechten Sitten, Gewohnheiten und Gebräuche der Europäer eingebürgert werden.“, August Bebel, sozialdemokratischer Abgeordneter des Deutschen Reichstages, Reichstagsrede gegen die Kolonialpolitik in Deutsch-Ostafrika am 26. Januar 1889 (DGDB o. J.)
Kolonialismus bezieht sich auf eine historische Phase, in der europäische Länder ab dem 15. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert Gebiete außerhalb Europas eroberten, kontrollierten und oft auch dauerhaft besetzten. Ziel des Kolonialismus war es, politische, wirtschaftliche und kulturelle Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen, um Ressourcen zu gewinnen, wirtschaftliche Vorteile zu erzielen und oft auch die eigene Macht und Einfluss auszuweiten.
Die erste Kolonie führt auf Portugies:innen zurück. Im Jahr 1415, eroberte ein Heer von Kreuzrittern unter portugiesischer Flagge die nordafrikanische Stadt Ceuta. 1419 folgten dann Madeira und 1427 die Azoren. Diese Stützpunkte dienten zunächst dem Menschenhandel. Einheimische wurden als Sklaven und Sklavinnen nach Portugal verschleppt. (Aufmkolk 2010/2022)
Zur Hochphase des Kolonialismus, in der Zeit ab 1880 bis 1914, wird Kolonialismus auch als Imperialismus betitelt. Das größte Imperium bzw. die größte Kolonialmacht aller Zeiten war das Vereinigte Königreich. Im 19. Jahrhundert umfasste es flächenmäßig ein Fünftel der Erde und ein Viertel der gesamten Weltbevölkerung. Das britische Weltreich hat damals Kolonien in verschieden Teilen der Welt etabliert, darunter Afrika, Asien, Amerika und Ozeanien. Diese Kolonien wurden oft als Mittel zur Ausbeutung von Rohstoffen, zur Erschließung neuer Märkte für Handel und zur Verbreitung von kulturellen, religiösen und politischen Einflüssen genutzt. Es war ein globales Wettrennen der europäischen Großmächte um die Vorherrschaft auf dem gesamten Erdball. (Statista Research Department 2023)
Welche Folgen hatte der Kolonialismus?
Der Kolonialismus hatte schwerwiegende negative Auswirkungen auf die besetzten Gebiete. Die Bevölkerung wurde oft terrorisiert, enteignet und ihrer Ressourcen beraubt. Kulturelle Traditionen wurden unterdrückt oder ersetzt, und soziale Strukturen wurden häufig gestört. Viele Kolonialmächte praktizierten eine rassistische Hierarchie, die zur Ausbeutung und Diskriminierung der einheimischen Bevölkerung führte.
Ein grausamer Höhepunkt war der Völkermord an den Herero und Nama (1904–1908) in Namibia. Die Herero rebellierten gegen die deutsche Besetzung, der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen. Die deutschen Besatzungstruppen führten einen Vernichtungskrieg gegen die Aufständischen. Diejenigen Herero, die die Schlacht überlebten, wurden zum Verdursten in die Omaheke-Wüste getrieben oder starben anschließend in Konzentrationslagern. Ungefähr 95.000 Herero und Nama wurden während des Krieges getötet. Die Gebeine der Toten wurden anschließend teilweise in deutschen (Reichs-)Museen ausgestellt. 2018 wurden an Vertreter Namibias 27 Gebeine zurückgegeben. Dennoch lagern heute noch allein im Depot der Berliner Museen über 11.000 menschliche Überreste. Auch in Universitätssammlungen sind noch Gebeine zu finden. Der Völkermord an den Herero und Nama gilt als erster Genozid des 20. Jahrhunderts. (Buhmann o. J.)
Auch nach der Unabhängigkeit vieler ehemaliger Kolonien sind die Folgen des Kolonialismus oft noch spürbar. Instabilität, wirtschaftliche Herausforderungen, ethnische Konflikte und soziale Ungerechtigkeiten bestehen weiterhin.
Spuren des Kolonialismus in Siegen
Das Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium oder die Fürst-Johann-Moritz-Straße sind einigen Siegener:innen vielleicht ein Begriff. Doch wer ist er und warum wurden Schule und Straße nach ihm benannt? Johann Moritz, Fürst von Nassau-Siegen (1604–1679) war Mitglied des deutschen Adelsgeschlechts Nassau und spielte eine zentrale Rolle im Brasilienfeldzug der Niederländischen Westindien-Kompanie. Doch was hat er mit Siegen zu tun?
Johann Moritz wurde am 17. oder 18. Juni 1604 in Dillenburg, Deutschland, geboren und starb am 20. Dezember 1679 in Siegen. Er war der älteste Sohn von Johann VII., Graf von Nassau-Siegen, und Gräfin Margaretha von Holstein-Sonderburg. Im Dreißigjährigen Krieg kämpfte Johann Moritz auf Seiten der Protestant:innen und erwarb sich einen Ruf als „fähiger“ militärischer Führer. Nach dem Krieg trat Johann Moritz in den Dienst der Niederländischen Westindien-Kompanie und führte von 1636 bis 1644 eine „Expedition“ nach Nordost-Brasilien an. Er eroberte und verwaltete Teile des heutigen Nordost-Brasilien und gründete die Kolonie „Neu-Holland“. (Thissen o. J.)

An allen Orten, an denen sich Johann Moritz aufhält, hinterlässt er Spuren. Auch in Siegen. Im Jahr 1658 lässt er auf der Turmspitze der Siegener Nikolaikirche eine vergoldete Krone errichten. Warum er die Krone hat anbringen lassen, wird bis heute verschieden gedeutet. Johann Moritz hat während der Kolonialzeit festgestellt, wie wichtig Symbole zur visuellen Kommunikation und Darstellung in Bezug auf Macht und Position sind. Daher brachte er aus den Kolonien neben Kunstwerken und anderen geraubten Objekten, auch seine Praktiken der Machtrepräsentation in die europäische Heimat. Aufgrund der Universalität der Kronensymbols sei es ein Mittel symbolischer Kommunikation und Politik. Auch wird vermutet, Johann Moritz ließ die Krone als Zeichen seiner Erhebung zum Reichsfürsten anbringen. Die gängigste Theorie ist jedoch: Johann Moritz habe durch seine Krone auf der reformierten Kirche im konfessionell gespaltenen Siegerland ein Bekenntnis zum reformierten Glauben ausdrücken und die enge Verbindung zwischen Kirche und weltlicher Macht betonen wollen. (Scheidt 2021, S. 49f)
Anfang des 19. Jahrhunderts schwand das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen dem „Krönchen“ und der nassauischen Landesherrschaft und den kolonialen Kontexten dessen Entstehung. Heute wird das Siegener Markenzeichen mit dem einstigen Herrscher kaum noch in Verbindung gebracht. Es dient als Stadtlogo, Tourismusmagnet und wird zur Identifikation der „Krönchenstadt“ verwendet. Ganz aus dem Stadtbild ist der Name allerdings nicht verschwunden. Siegener Kinder und Jugendliche besuchen in Weidenau seit 1886 das Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium. Auch der neue Bau am Bahnhof in der Unterstadt nennt sich Johann-Moritz-Quartier und liegt an der Fürst-Johann-Moritz-Straße. (Scheidt 2021, S. 61) Der koloniale Bezug des „Krönchens“ und von Fürst Johann Moritz wird dabei ignoriert.
Was können wir tun?
Wie können wir zur dekolonialen Aufklärung beitragen? Wie können wir ein Bewusstsein schaffen und den Prozess der Dekolonisierung vorantreiben?
Die Rückgabe von in der Kolonialzeit entwendeten und geraubten Kulturgütern und menschlichen Überresten sind aktuell ein brisantes Thema – nicht zuletzt durch die im Sommer 2022 zurückgegebenen Benin-Bronzen. Im September 2011, also 103 Jahre nach dem Völkermord an den Herero, wurden die Gebeine der Herero und Nama an das Herkunftsland zurückgegeben. Der damalige CDU-Abgeordnete Ruprecht Polenz wurde als Vermittler zur Versöhnung geschickt und sollte die Jahre 1904 bis 1908 mit der namibischen Regierung aufarbeiten. Erst 112 Jahre später wurde der Völkermord auch von der deutschen Regierung als solcher anerkannt. (Buhmann o. J.)
Um die Aufklärung weiter zu fördern, sollten Kinder und Jugendliche bereits im Geschichtsunterricht der Schulen mit dem Thema des Kolonialismus und den Prozessen der Dekolonisierung vertraut gemacht werden. Bewusstseinsbildung für derartig komplexe Themen schafft Empathie und Verständnis für die Betroffenen und die Folgen des Kolonialismus.
Auch weitere politische Maßnahmen könnten ergriffen werden, um die Dekolonisierung zu fördern: soziale Gerechtigkeit für alle Völker und das Stärken der Selbstbestimmung ehemaliger Kolonien. Die generelle Entwicklung von Rechtssystemen, Infrastruktur und engere Zusammenarbeit zwischen ehemaligen Kolonialmächten und Kolonien, sowohl politisch, wirtschaftlich, als auch wissenschaftlich, kann zum Verständnis der kolonialen Vergangenheit beitragen.
Die Dekolonisierung des öffentlichen Raumes ist ebenfalls ein großes Thema. Haben die Namen von Straßen, Parks, Bildungseinrichtungen, öffentlichen Plätzen und Gebäuden einen kolonialen Bezug, wie in Siegen das Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium? Wir als Individuen können bei der Dekolonisierung des öffentlichen Raumes aktiv mitwirken und dafür sorgen, dass Straßen, wie z. B. die Fürst-Johann-Moritz-Straße, umbenannt werden. Die Kulturstiftung des Bundes bietet in Zusammenarbeit mit Vereinen beispielsweise eine „Initiative zur Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe der Stadt“ in Hamburg an. Auch Universitäten, z. B. die Bauhaus-Universität Weimar, hat ein Studierenden-Projekt „Decolonize Weimar!“ gestartet, um Weimar zu dekolonisieren.
Insgesamt ist Dekolonisierung eine komplexe Herausforderung, welche in Zukunft noch eine große Rolle spielen wird. Es ist ein Prozess, der Engagement, Empathie und die Fähigkeit erfordert, die Komplexität der kolonialen Geschichte zu verstehen und die daraus resultierenden Ungerechtigkeiten anzugehen. Die Dekolonisierung trägt dazu bei, eine gerechtere und inklusivere Welt für kommende Generationen zu schaffen, in der die Stimmen und Rechte aller Menschen gehört und respektiert werden.
Quellen
Aufmkolk, Tobias (2010, aktualisiert 2022): „Kolonialismus – Europas Kolonien“, planet wissen, [online] https://www.planet-wissen.de/geschichte/neuzeit/kolonialismus/index.html
Bee, Julia (2020): „Decolonize Weimar!“ Studierenden-Projekt ermöglicht interaktiven Spaziergang durch Weimars Kolonialgeschichte, [online] https://decolonize-weimar.org, Bauhaus-Universität Weimar.
Buhmann, Tristan (o. J.): „Der Völkermord an den Herero und Nama (1904-1908)“, Genocide Alert, [online] https://www.genocide-alert.de/projekte/deutschland-und-massenverbrechen/herero-und-nama/
Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium (Siegen): Die Geschichte des Fürst-Johann-Moritz-Gymnasiums in Wort und Bild, [online] https://www.fjm-siegen.de/schule/geschichte/
Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB) (o. J.): „August Bebels Reichstagsrede gegen die Kolonialpolitik in Deutsch-Ostafrika (26. Januar 1889)“, [online] https://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/624_August%20Bebel_Kolonialpolitik_204.pdf
König, Jürgen (2022): „Ein längst überfälliger Schritt“ Baerbock zur Rückgabe der Benin-Bronzen, tagesschau, [online] https://www.tagesschau.de/inland/baerbock-rueckgabe-benin-bronzen-101.html
Memarnia, Susanne (2018): „Streit um Rückgabe an Namibia – Nur 11 von 11.000 Gebeinen“, taz, Online: https://taz.de/Streit-um-Rueckgabe-an-Namibia/!5528284/
Pelizaeus, Ludolf (2008): Der Kolonialismus – Geschichte der europäischen Expansion, marixverlag.
Scheidt, Tobias (2021): „Unter der Krone des ‚Brasilianers‘: Koloniale Herrschaftsrepräsentation und die Entstehung eines Siegener Wahrzeichens“, in: Bischoff et al. (Hg.): Koloniale Welten in Westfalen, Paderborn: Brill [u.a.], S. 47-61.
Siegerland Museum (o. J.): „Fürst Johann Moritz (1604-1679) und das Haus Nassau-Siegen“, [online] https://siegerlandmuseum.de/ausstellungen/sammlungen/fuerst-johann-moritz-1604-1679-und-das-haus-nassau-siegen/
statista (o. J.): „Statistiken zum Kolonialismus“, [online] https://de.statista.com/themen/6472/kolonialismus/#topicOverview
Thissen, Bert (o. J.): Johann Moritz von Nassau-Siegen – Fürst von Nassau-Siegen und Stadthalter von Kleve-Mark (1604-1679), Portal Rheinische Geschichte, [online] https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/johann-moritz-von-nassau-siegen/DE-2086/lido/57c92e71cd23c4.68320905
Zeller, Joachim und Zimmerer, Jürgen (2004): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika – Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, Ch. Links Verlag, Berlin.
Abbildungen
Abb. 1: Siegener Nikolaikirche mit „Krönchen“, Foto von Jan Schulte