Studentische Mobilität: Siegen, Mobilität und Klassismus

Text: Esma Erkmen und Yesim Derinalp

Anhand von mehreren Diskussionsrunden wurde die Zufriedenheit Studierender der Universität Siegen zum Thema Mobilität ermittelt. Hierzu wurde Mobilität im Zusammenhang mit Klassismus und den Themen Nachhaltigkeit, Flexibilität, Freiheit, Spontanität und Sicherheit diskutiert: Durch die hohen Preise der Mieten in der Innenstadt, die Unzuverlässigkeit der Busverbindungen und die Kosten, welche der Besitz eines Autos mit sich bringt, ist studentische Mobilität ein großes, klassenbezogenes Problem in Siegen, welches die Studierenden als Benachteiligung aufgrund ihres sozioökonomischen Hintergrunds empfinden. Es zeigt sich, dass für viele Studierende nachhaltige Mobilität eine große Herausforderung darstellt, da die angebotenen Verbindungen als nicht zufriedenstellend empfunden werden.

1   Ausgangssituation

„Sogar das Siegufer war vorher ein Parkplatz!“ (Zitat Gruppendiskussion, Studierender Universität Siegen)

Die Infrastruktur der öffentlichen Verkehrsmittel in Siegen bietet wenig Alternativen.  Betrachtet man andere Großstädte in Nordrhein-Westfalen wird schnell deutlich, dass Studierende in anderen Städten eine viel ausgefächertere Infrastruktur im Alltag genießen können. Straßenbahnen, Stadtbahnen, U-Bahnen, Züge, Busse und Trams, welche lange und häufig fahren ist für Studierende in Siegen keine Realität. Züge verbinden nur wenige Stadtteile miteinander und sind für die meisten Studierenden kein Teil des Alltags. Es bleibt der Busverkehr, welcher in den letzten Jahren stark reduziert und eingeschränkt wurde und ein hohes Maß an Unzufriedenheit seitens der Fahrgäste auslöst.[1] Die Gründe sind multifaktoriell. Zu einem lässt das bergige Siegerland keine Möglichkeit für den Ausbau von Schienenverkehr und ist somit abhängig von Bussen. Außerdem ist die Universität Siegen im Vergleich zu anderen Universitäten sehr jung. Sie wurde im Jahr 1972 gegründet und die Stadt hat keine jahrhundertelange Geschichte von Studierenden, welche in die Stadt ziehen, wie andere Städte es vorzeigen können.

Taktfahrplan Bus & Bahn in Westfahlen-Süd 2022/23 (https://www.vws-siegen.de/fahrplan/liniennetzplaene/)

Viele Studierende, die in die Stadt ziehen, können sich eine Wohnung im Zentrum der Stadt nicht leisten, da die Mietpreise zu hoch sind. Sie weichen in Stadtteile wie Weidenau, Geisweid oder Netphen aus. An diesen Orten ist die Busverbindung noch eingeschränkter als in der Stadt und Freizeitaktivitäten, Einkaufsmöglichkeiten und die Universität sind für viele nicht anders zu erreichen. Vor allem abends stellt die Busverbindung ein Problem dar, da die Busse in größeren Abständen kommen und viele Stadtteile zu später Stunde nicht mehr befahren werden. Dies stellt ein Problem dar, mit dem sich die, die es sich leisten können, nicht auseinandersetzen müssen. Ihnen ist es möglich, mit dem Auto zu fahren und sind dadurch mobil und unabhängig von den infrastrukturellen Gegebenheiten der Stadt Siegen.

Live-Staukarte von Siegen und Umgebung, Screenshot (https://www.siegen.de/willkommen/verkehrshinweise/staukarte-von-siegen-und-umgebung/)

In diesem Zusammenhang möchten wir den Begriff des Klassismus einführen, der „die Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen aufgrund ihres vermuteten oder wirklichen sozialen Status“[2] meint. Es handelt sich um ein klassistisches Problem, da es nicht alle sozialen Schichten der Gesellschaft betrifft und die benachteiligt, die sich aus finanziellen Gründen kein Auto leisten können. Ein Großteil der betroffenen Menschen sind die Studierenden der Universität Siegen. Die meisten Studierenden besitzen kein Auto und das Busfahren ist daher für viele die einzige Option, um im Alltag mobil zu sein – gerade auf ÖPNV angewiesene sind von den unzureichenden Busverbindungen stärker betroffen als Autofahrende. Die Perspektive dieser Studierenden möchten wir in diesem Projekt beleuchten. Dazu möchten wir herausarbeiten, wie die Meinung von einigen Studierenden über die Infrastruktur und die öffentlichen Nahverkehrsmittel ist.

Klimaschutzteilkonzept Mobilität der Universitätsstadt Siegen: Rahmenplan
(https://www.siegen.de/leben-in-siegen/energie-und-klima/nachhaltige-mobilitaet/klimaschutzteilkonzept-mobilitaet/)

Im Rahmen des Projektseminars „decolonize decarbonize Siegen“ wurde das Mobilitätskonzept der Universitätsstadt Siegen betrachtet und herausgearbeitet, ob Studierende in Siegen mit der Infrastruktur der öffentlichen Verkehrsmittel vor Ort zufrieden sind oder nicht. Dazu entschieden wir uns für eine Gruppendiskussion, für die wir eine Anzahl von zehn Studierenden eingeladen haben, um persönliche Meinungen und Erfahrungen für eine Forschung mit qualitativem Fokus zu sammeln.

2   Planung und Durchführung der Gruppendiskussionen

Im Folgenden soll nun dargestellt werden, wie die Planung und Durchführung der beiden Gruppendiskussionen abliefen. Die Antworten und ausgewählten Zitate der Diskussion sollen in Kapitel 3 wiedergegeben und interpretiert werden. Ziel des Forschungsprojekts war es, im Gegensatz zu quantitativen Befragungen, qualitative und subjektive Erfahrungsberichte der Studierenden zu sammeln. Aus diesem Grund entschieden wir uns für die Durchführung einer Gruppendiskussion, und gegen das Stellen von bloßen Ja-oder-Nein-Fragen, damit das Gespräch durch Reaktionen, Ableitungen und weitere Ausführungen zwischen den Studierenden auf natürliche Weise aufeinander aufbauen und vertiefen kann.[3] Im Sinne von Kuckartz und Rädiker entschieden wir uns also für eine „Diskussion mit Forschungsteilnehmenden (member checking) […], um so im Sinne kommunikativer Validierung eine qualifizierte Rückmeldung zu den Forschungsresultaten zu erhalten“[4]. Für die Diskussion haben wir zehn Studierende der Universität Siegen mit unterschiedlichen Lebensumständen eingeladen, die zum Zeitpunkt der Durchführung zwischen 19 und 27 Jahre alt waren. Die ausgewählten Personen lebten zwischen einem und sieben Jahren in Siegen, vier Personen besaßen ein privates Auto und sechs besaßen keins. Drei Personen lebten im Zentrum der Stadt Siegen, vier Personen im Stadtteil Weidenau, zwei Personen im Stadtteil Geisweid und eine Person im Stadtteil Birlenbach, der am weitesten vom Zentrum der Stadt liegt. Von den ausgewählten Personen waren zwei in einem Minijob-Verhältnis beschäftigt, eine als Teilzeitkraft und zwei als Werkstudierende angestellt. Die anderen fünf Personen bezogen BaFöG in ähnlichen Summen.

2.1   Erste Gruppendiskussion

Wichtig bei den Gruppendiskussionen war es uns, keine bloßen Ja-Nein-Fragen zu stellen, sondern solche Fragen, die einen weiterführenden Austausch zwischen den Personen anregen. Dabei übernahmen wir als Forschungsgruppe die Rolle der Moderatorinnen. Unsere Aufgaben bestanden darin, Fragen zu stellen, welche eine Diskussion anregen. Vor allem haben wir uns darauf konzentriert, die Fragen so zu formulieren, dass jeder Teilnehmende betroffen ist und jedoch trotzdem eine subjektive Perspektive in die Diskussion hinzufügen kann. Außerdem haben wir die Diskussion geleitet und darauf geachtet, dass das Thema nicht zu sehr abweicht und dass die Teilnehmer einander ausreden lassen und die Diskussion sich auf natürlichem Wege weiterentwickelt. Außerdem haben wir stark darauf geachtet, uns aus der Diskussion rauszuhalten, obwohl wir selbst von dem Thema betroffen sind, um die Aussagen der Teilnehmer nicht zu beeinflussen und keine Meinungen vorzugeben. Wir stellten zu Beginn der Diskussion die Frage „Was bedeutet für dich Mobilität?“, um einen natürlichen Austausch der Studierenden auf ihre verschiedenen Antworten anzustoßen. Während der Diskussion enthielten wir uns bestmöglich und versuchten lediglich in Gesprächspausen Fragen zur Wiederaufnahme des Gesprächsfluss zu stellen. Um eine subjektive Einschätzung ihrer jeweiligen Lebenssituationen zu erhalten, stellten wir die Frage „Bist du in Siegen mobil?“. Damit wollten wir zum einen wissen, ob die Teilnehmenden ein Auto besitzen oder nicht, zum anderen aber auch, ob sie sich und ihre Fortbewegungsmöglichkeiten in Siegen, entsprechend mit oder ohne Auto, als mobil und flexibel einschätzen würden.

Im Anschluss an die ersten beiden Fragen zur Lebenssituation der Studierenden, wollten wir den Fokus auf eine Diskussion um Mobilität und Klassismus lenken. Dabei zielten wir auf subjektive Erfahrungsberichte sowie Reaktionen auf diese seitens der Studierenden ab. Die nächste Frage der Moderatorinnen lautete demnach „Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Klassismus?“. Aufgefallen hierbei ist, dass der Begriff Klassismus zunächst definiert werden musste, da sich der Großteil der Teilnehmergruppe nicht vollständig sicher darüber war, was mit diesem gemeint war. Durch Hilfestellung der Moderatorinnen, aber auch durch das Gespräch der Gruppe selbst wurde der Begriff hinreichend erläutert und im weiteren Verlauf der Diskussion berücksichtigt. Eine weitere Frage unsererseits lautete „Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Nachhaltigkeit?“, um einen reflektiven Denkanstoß über das eigene Umweltbewusstsein und die Nachhaltigkeit der Infrastruktur der Stadt Siegen zu fördern. Außerdem fragten wir in der Funktion als Moderatorinnen der Gruppendiskussion die Teilnehmer „Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Freiheit?“. Diesen Freiheitsgedanken führten wir dann weiter und stellten die Frage „Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Spontanität?“. Freiheit und Spontanität können ein wichtiger Bestandteil eines Mobilitätskonzepts sein. Wer nicht mobil ist, ob mithilfe eines eigenen Autos oder eines guten öffentlichen Verkehrsmittelnetzes, hat womöglich nicht die Möglichkeit, beispielsweise abends lange oder spontan auszugehen, da eine Abhängigkeit von Faktoren wie Bus- und Bahnverbindungen besteht, die in kleineren Städten nicht immer optimal ausgebaut sind.

Die letzte gestellte Frage, über die diskutiert wurde, lautete „Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Sicherheit?“. Der Begriff Sicherheit wurde in diesem Kontext in verschiedenen Weisen verstanden. Zum einen wurde Sicherheit, überwiegend von den weiblichen Teilnehmerinnen, als körperliche Unversehrtheit verstanden. Dabei wurde diskutiert, ob die körperliche Sicherheit in einem öffentlichen Verkehrsmittel zum Beispiel nachts einer solchen in einem privaten eigenen Auto nahekommen kann. Zum anderen wurde Sicherheit mit Verlässlichkeit gleichgestellt, also die Sicherheit, Termine pünktlich wahrnehmen zu können, wenn man öffentliche Verkehrsmittel zur Anreise nutzt. Zu einem eher geringeren Grad wurde Sicherheit auch als Unfallanfälligkeit verstanden, dies machte jedoch lediglich einen kleinen Teil der Diskussion zu dieser Frage aus.

2.2   Zweite Gruppendiskussion

 Nach Abschluss der ersten Gruppendiskussion wurde die Notwendigkeit deutlich, dass unser Anspruch an eine Auseinandersetzung mit der Problematik des Klassismus im Zusammenhang mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erfüllt wurde. Wider Erwarten wurde dieser Zusammenhang kaum thematisiert. Aus diesem Grund haben wir dieselbe Gruppe an Studierenden zu einer zweiten Diskussion eingeladen, um näher auf diesen Zusammenhang eingehen zu können. Zunächst haben wir die Definition von Klassismus aus der ersten Gruppendiskussion aufgegriffen und erweitert,[5] indem wir die Konzeptions- und Beratungsstelle für Diversitätsentwicklung im Kulturbetrieb „Diversity Arts Culture“ zitiert haben, damit alle Beteiligten ein einheitliches Verständnis des Klassismusbegriffs besitzen:

„Klassismus bezeichnet die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft und/oder der sozialen und ökonomischen Position. Es geht bei Klassismus also nicht nur um die Frage, wie viel Geld jemand zur Verfügung hat, sondern auch welchen Status er hat und in welchen finanziellen und sozialen Verhältnissen er aufgewachsen ist. Klassismus richtet sich mehrheitlich gegen Personen einer „niedrigeren Klasse“. Es werden insbesondere wohnungs- und erwerbslose Menschen, Menschen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse ausgegrenzt.“ [6]

Hierbei wurde der Vorteil einer face-to-face Gruppendiskussion deutlich, da die begrenzte Anzahl an Studierenden erneut zusammenfinden und durch die Bereitstellung eines gemeinsamen Fundaments, zum Beispiel des Begriffs Klassismus, eine tiefergehende Diskussion abhalten konnte.[7] Wichtig war uns bei der zweiten Gruppendiskussion, dass das Problem des Klassismus im Zusammenhang mit dem Mobilitätskonzept in der Stadt Siegen deutlich wird. Es sollte bewusst werden, dass der Mangel eines privaten eigenen Autos mehr bedeutet als fehlende finanzielle Mittel, sondern dass die Auswirkungen sich auf ebendiese finanziell und potenziell sozial schwächeren Schichten begrenzen. Interessant hierbei war, dass die Studierenden sich durch diese fehlenden Geldmittel zum Kauf eines Autos nicht zwangsläufig als einer schwächeren sozialen Schicht zuordneten, da oftmals von den Studierenden in Siegen als eine einheitliche Schicht gesprochen wurde. Dies ist jedoch offensichtlich nicht der Fall, da eigene sowie familiäre finanzielle Mittel und soziale Positionierungen hierbei eine erhebliche Rolle spielen.

Mit dem Bewusstsein über diese Erkenntnis und den Begriff des Klassismus wurde das Vorgehen der ersten Diskussionsrunde weitgehend wiederholt. Wir haben als Moderatorinnen Fragen gestellt, die zum Erfahrungsbericht und -austausch anregen sollten. Die erste Frage der zweiten Diskussionsrunde lautete „Was bedeutet der Besitz eines Autos für dich?“. Deutlich wurde beim zweiten Gruppengespräch, dass die Diskussion noch dynamischer und ohne großes Eingreifen seitens der Moderatorinnen ablief. Die zweite Frage, die wir den Teilnehmenden stellten, war „Glaubst du, dass Studierende in Siegen, die ein Auto besitzen, auf dieses freiwillig verzichten und lieber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren?“.

3   Ergebnisse der Diskussionsrunden

Hier haben wir die wichtigsten Interview Ausschnitte und Antworten der Diskussionen zusammengetragen:

3.1   Erste Diskussionsrunde

„Menschen, die nicht mobil sind, sind von anderen abhängig“ (Zitat Anonym Gruppendiskussion)

Was bedeutet für dich Mobilität?

Student S:

„Freiheit und Flexibilität. Mobilität ist unglaublich wichtig. Man sagt ja auch immer bei der Wohnungssuche, dass die Lage das A und O ist. Weil die Lage deine Mobilität, deine Freiheit und deine Flexibilität bestimmt. Vor allem in Siegen. Vor allem für Studenten.“

Student D:

„Ganz simpel ausgedrückt bedeutet es für mich, dass man ohne Probleme von A nach B kommt.“

Student C:

„Auch Unabhängigkeit. Menschen, die nicht mobil sind, sind von anderen abhängig.“

„Wer in Siegen kein Auto hat, ist selber schuld“ (Zitat Anonym Gruppendiskussion)

Bist du in Siegen mobil?

Student D:

„Ich bin in Siegen mobil, aber das habe ich meinem Auto zu verdanken. Würde ich hier Bus fahren würde es anders aussehen. Wer in Siegen kein Auto hat, ist selber schuld. Nein, ich weiß natürlich, dass es sich nicht jeder leisten kann, aber Siegen ist einfach eine Autostadt.“

Student C:

„Ich bin mobil genug, um zu überleben sagen wir es mal so. Ich bin nicht mobil genug, um meine Freizeit so zu gestalten, wie ich es will. Nicht nur meine Freizeit, sondern auch mein Alltag also zum Beispiel mein Weg zur Uni ist beeinträchtigt.“

Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Klassismus?

Student E:

„Alles ist Geld. Zeit ist Geld. Auto ist Geld. Wohnung im Zentrum von Siegen ist Geld. Somit ist es ein klassistisches Problem.“

Student S:

„Würdet ihr diese Diskussion mit einer Gruppe von Menschen führen die Häuser im Zentrum der Stadt – und Auto haben, dann hättet ihr ganz andere Ergebnisse. Diese Menschen haben durch ihre Klasse eine andere Perspektive auf das Leben in Siegen und auf das Thema Mobilität. Da sehe ich den Zusammenhang. Dieses Problem teilt ja die Einwohner Siegens ganz salopp ausgedrückt in “Reich” und “Arm”. Wenn sich die Reichen nicht damit auseinandersetzen müssen, dann ist es ein Klassistischen Problem. Wenn Geld die Lösung ist, dann ist es ganz klar ein klassistisches Problem.“

Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Nachhaltigkeit?

Student S:

„Ohne die Frage auf die Stadt Siegen und das Leben der Studenten hier anzuwenden ist der Zusammenhang natürlich klar. Also wenn man das Thema ganz theoretisch betrachtet. Es gibt Verkehrsmittel die nachhaltiger sind als andere. Fahrrad fahren und so. Man soll eher Bus oder Zug fahren und das Auto stehen lassen. Praktisch sieht das aber ganz anders aus.“

Student H:

„Natürlich ist das Nutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln besser für die Umwelt. Aber in Siegen einfach nicht umsetzbar. Ich weiß, dass mein Auto schlecht für das Klima ist, ich weiß, dass die Abgase der Ozonschicht (sic!) schaden. Ich weiß, aber auch dass ich um Punkt acht Uhr auf der Arbeit sein muss und der Bus der um 7:48 kommt, immer zu spät ist und der davor um 7:18 mich zwingt früher aufzustehen und eine halbe Stunde morgens in Siegen Zeit zu vertreiben.“

Student D:

„Ich finde es auch unfair, bei so einer Frage mit dem Finger auf uns Studenten zu zeigen, die in einer Stadt wohnen, einfach keine guten Alternativen zum Auto bietet. Wir müssten unser Leben so stark einschränken, um nachhaltig mobil zu sein. Es gibt ganz klar Personengruppen, die da weiter oben auf der Liste stehen.“

„Wer mobil ist, ist freier als wer nicht mobil ist“ (Zitat Anonym Gruppendiskussion)

Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Freiheit/Spontanität/Flexibilität?

Student E:

„Wer mobil ist, ist freier als wer nicht mobil ist. Ich glaube das erklärt sich von selbst. In diesem Kontext bedeutet ja Freiheit, dass man rausgehen kann, ohne Probleme. Und das ist ja ein großer Teil des Alltags. Freiheit ist vielleicht ein etwas zu grober Begriff für diese Diskussion. Man kann es eher aufteilen in Flexibilität und Spontanität.“

Moderatorin:

„Das klingt logisch. Wir können die Frage auch so weiter diskutieren.“

Student E:

„Dann würde ich sagen, dass man durch Mobilität ungebunden ist und seinen Alltag selbständiger bestimmen kann.“

Student H:

„Ich finde des Begriff Freiheit in diesem Zusammenhang passend. Ich bin nicht frei, wenn ich nicht mobil bin. Wenn ich wohin will und nicht kann, weil keine Busse kommen, wird meine Wohnung zu meinem Gefängnis.“

In meinem Auto fühle ich mich am sichersten.

Wo siehst du den Zusammenhang zwischen Mobilität und Sicherheit?

Student D:

„In meinem Auto fühle ich mich am sichersten. Wenn man abends am ZOB in Siegen oder in Weidenau warten muss, hat man oft Angst. Man wird angesprochen und auch ab und zu belästigt. Das fällt beim Autofahren natürlich alles weg. Öffentliche Verkehrsmittel sind vor allem für Frauen gefährlich. Ich höre von vielen Freundinnen Geschichten. Manche Bushaltestellen in Siegen sind auch total abgelegen und man hat das Gefühl, dass wenn etwas passieren würde, es niemand mitbekommen würde.“

Student C:

„Vor allem der Busbahnhof in Weidenau macht mir Angst. Ich stehe da manchmal bis zu vierzig Minuten, weil mein Bus oft ausfällt und es sind so viele betrunkene Menschen da, die einen ansprechen. Wenn die Busse öfter kommen würden, müsste ich dort nicht so lange stehen.“

Student E:

„Ich habe die Frage anders interpretiert. Ich dachte es geht um die Verkehrssicherheit. Da sind die Busse aber auch klar im Nachteil, da sie oft so voll sind, dass viele Leute stehen müssen und sich oft nicht einmal festhalten können. Ich habe schon oft mitbekommen, wie der Busfahrer bei einer roten Ampel auf einmal gebremst hat und die Leute, die standen, gefallen sind.“

Aus der ersten Diskussionsrunde ging hervor, dass fehlende selbstständige Mobilität durch den Besitz eines Autos mit einer Abhängigkeit der Infrastruktur des öffentlichen Verkehrsmittelnetzes gleichgesetzt wird. Die Studierenden äußerten ihre Unzufriedenheit über diese Abhängigkeit und betonten, dass der finanzielle Aspekt zwar einen wichtigen Teil dieser fehlenden Freiheit ausmacht, jedoch gebe es keine zufriedenstellenden Alternativen. Auch interessant fanden wir die Antworten in Bezug auf die Frage nach Sicherheit, die sich in verschiedene Interpretationswege ausbreiteten. Insbesondere weibliche Studentinnen schätzen die persönliche Sicherheit in einem eigenen Auto als wesentlich höher ein als bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, besonders in der Nacht.

3.2   Zweite Diskussionsrunde

„Siegen muss eine Lösung für uns finden“ (Zitat Anonym Gruppendiskussion)

Was bedeutet der Besitz eines Autos für dich?

Student D:

„Ich verspüre durch das Besitzen eines Autos in Siegen unglaublichen Druck. Keiner in meiner Freundesgruppe hat ein Auto und wenn wir abends wohin fahren wollen, bin ich die Einzige, die das möglich machen kann. Ich wohne selber am Kornberg und die Busverbindung ist tagsüber schlecht und abends noch schlechter. Ich nehme meine Freunde, die im gleichen Gebäude wohnen mit und die, die woanders wohnen sammle ich oft ein. Wenn wir dann wieder nach Hause fahren, das gleiche. Weidenau-Geisweid-Siegen und dann wieder Siegen-Geisweid-Weidenau. Man kann aber auch nicht sagen ‘Guckt zu wie ihr nach Hause kommt’. Vor allem weibliche Freunde dann nicht nach Hause zu fahren ist für mich ein no-go weil ich weiß, dass keine Busse mehr fahren und sie oft sogar nachts nach Hause laufen, da es außer teuren Taxen, die sich niemand leisten kann, nichts gibt.  Ich weiß, dass die anderen das nicht machen, um mich auszunutzen und es einfach keine Alternative gibt, aber ich bin auch nur Studentin […]. Es ist unter Freunden dann oft unangenehm nach Tankgeld zu fragen, da es dann pro Person nur ein paar Euro sind und man nicht so geizig rüber kommen möchte oder so als würde man es nicht gerne machen. Ich muss da noch eine Lösung für mich finden bzw. Siegen muss eine Lösung für uns finden.“

Moderatorin:

„Also ist es vor allem abends von Vorteil ein Auto zu haben?“

Student D:

„Es ist immer von Vorteil ein Auto zu haben, aber abends ist es ein muss. Die Sachen, die man machen muss wie zur Uni kommen oder Einkaufen kriegt man Tagsüber noch irgendwie hin aber die Freizeit ist extrem eingeschränkt. Das mag sich jetzt anhören, wie ein Luxusproblem, aber wir sind alle Studenten, wir sind alle jung. Wir können ja nicht jeden Abend zuhause sitzen, weil wir nicht mobil sind.“

Student E:

„Ich weiß, was du meinst. Zuhause bleiben kann nicht die Lösung sein. Vor allem, dadurch dass wir in der Corona Zeit studiert haben, habe ich das Gefühl, dass wir so einen großen Teil unserer Zeit in Siegen kein “Studentenleben” hatten. Und jetzt möchte man die Zeit, die man übrig hat, natürlich ausnutzen.“

Moderatorin:

„Glaubt ihr, Studenten die ein Auto haben, haben ein anderes Studentenleben bzw. Eine andere Art und Weise wie sie Siegen erleben?“

Student H:

„Auf jeden Fall. Ich habe den direkten Vergleich erfahren, da ich mir im vierten Semester ein Auto gekauft habe. Vor allem abends und im Winter geht man mit einem ganz anderen Gefühl nach draußen. Man kann seinen Alltag freier organisieren und hat nicht immer die Fahrt nach Hause im Hinterkopf.“

Moderatorin:

„Wo seht ihr hier den Zusammenhang zum Thema Klassismus?“

Student E:

„Ganz einfach. Hätten wir Geld, hätten wir alle ein Auto und hätten diese Probleme nicht.“

Student D:

„Ja oder: Hätten wir Geld, würden wir zentral wohnen und hätten diese Probleme nicht.“

Moderatorin:

„Also ist man sogar doppelt benachteiligt?“

Student S:

„Ja klar. Ohne Geld hat man natürlich nur Nachteile. Aber in Siegen spürt man das nochmal mehr. Da gefühlt alles, was man braucht an einem Fleck ist.“

Hätte ich die finanziellen Mittel, würde ich in Siegen niemals darauf verzichten

Glaubst du, dass Studieren in Siegen, die ein Auto besitzen, auf dieses freiwillig verzichten und lieber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren?

Student D:

„Ich schaue mir tagsüber immer vorher immer die Verbindung an. Abends muss ich gar nicht erst gucken. Wenn die Verbindung in Ordnung ist und ich nicht umsteigen muss oder ewig warten muss, lasse ich das Auto stehen. Das Semesterticket muss ich ja sowieso bezahlen, dann kann ich beim Tank wenigstens sparen.“

Student H:

„Ja am Ende des Monats, wenn ich kein Geld mehr habe, gehe ich abends eh nicht mehr viel raus, dann bleibt das Auto auch öfter stehen. Aber hätte ich die finanziellen Mittel, würde ich in Siegen niemals darauf verzichten. Da ist mir auch die Umwelt egal.“

Moderatorin:

„Habt ihr auch Nachteile dadurch, dass ihr ein Auto besitzt?“

Student D:

„Tanken und Parken fällt natürlich weg, wenn man öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Das sind ganz klar Nachteile. Tanken ist teuer, dass erklärt sich von selbst. Aber auch das Parken ist in Siegen schwer. Es gibt wenig Parkplätze und die sind natürlich voll. Außerdem kostet das Parken auch nochmal Geld.“

In der zweiten Diskussionsrunde wurde durch die Moderatorinnen ein fokussierterer Blickwinkel auf den Aspekt des Klassismus angestrebt. Interessant hierbei war, dass auch negative Äußerungen zum Besitz eines Autos gemacht wurden,  wie beispielsweise der Druck, Bekannten und Freunden eine Mitfahrgelegenheit zu bieten.  Dennoch wurde das Vorhandensein eines eigenen Autos stets als vorteilhaft und sogar als ein „Muss“ bezeichnet.  Den Aussagen der Studierenden nach steht ein Auto nicht nur für eine gehobenere Klasse, sondern auch für eine gesteigerte Lebensqualität, insbesondere in Bezug auf das sogenannte Studierendenleben.  Durch die Flexibilität und Freiheit, die den Studierenden dadurch gegeben wird, vereinfacht sich die Partizipation an der Gesellschaft und dem sozialen Umfeld. Ebenso konnten wir aus den Antworten entnehmen, dass andere Aspekte, die den Studierenden eigentlich wichtig erschienen, wie etwa Nachhaltigkeit, weniger relevant werden, sobald es die persönliche Mobilität und damit laut den Studierenden die persönliche Freiheit betrifft.  Etwaige Nachteile wie beispielsweise der Druck, andere Personen mit dem Auto mitzunehmen  aber auch zusätzliche Kosten wie Tanken und Parken übersteigen nach den ausgewerteten Aussagen jedoch nicht den Vorteil eines eigenen Autos.

Fazit

Als Fazit kann nun zusammengefasst werden, dass die Studierenden in beiden Diskussionsrunden eine hohe Unzufriedenheit ausgesprochen haben. Das Problem der Studentischen Mobilität wird nach der angewandten Definition des Begriffs Klassismus einstimmig als ein Problem verstanden und diskutiert. Hierbei muss jedoch erwähnt werden, dass dieser Impuls durch die Moderatorinnen zunächst explizit zu Beginn der zweiten Diskussionsrunde gegeben werden musste, da die Studierenden innerhalb der ersten Gruppendiskussion kaum selbstständig auf die Thematik des Klassismus eingegangen sind. Die Studierenden fühlen sich durch das Mobilitätsproblem im Alltag und vor allem abends in der Freizeit eingeschränkt. Zusammenhänge zwischen der fehlenden Mobilität und Nachhaltigkeit, Freiheit und Sicherheit können klar gefunden werden und die Schwere des Problems wird somit deutlich. Studierende fühlen sich durch ihre finanzielle Lage benachteiligt und können dieses Problem nur durch das Fahren von Autos umgehen. Hierzu haben wir Studierende abschließend gefragt, wie das Problem realistisch gelöst werden kann.

Moderatorin:

„Wie kann das Mobilitätsproblem in Siegen realistisch gelöst werden?“

Student C:

„Manche Faktoren existieren einfach. Man kann nicht ändern, dass Siegen Berge hat. Man kann nicht ändern, dass die Uni auf einem Berg ist. Da kann man nichts machen. Wir verstehen auch, dass Busse für Siegen die einzige Lösung sind. Diese müssen verlässlicher sein. Länger und öfter fahren.“

Student S:

„Ich sehe auch als einzige Lösung den Ausbau des Busverkehrs. Darauf muss sich die Stadt auf jeden Fall in Zukunft fokussieren.“

Student E:

„Universitätsstadt Siegen. Das heißt auch Studentenstadt. Das heißt auch, dass 15.000 Studenten in dieser Stadt wohnen, von denen die meisten kein Auto haben. Das muss die Stadt repräsentieren. Macht es den jungen Menschen nicht so schwer.“

Literaturverzeichnis

Diversity Arts Culture (o. D.): „Klassismus“, https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/klassismus (aufgerufen am 26.10.2023).

Kuckartz, Udo; Rädiker, Stefan (2022): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Beltz Juventa.

Lokalredaktion Siegen (2023): Busausfälle in Siegen: Wütende Leute schreien die Fahrer an. In: Westfalenpost, 30.10.2023. https://www.wp.de/staedte/siegerland/anschreien-ist-auch-keine-loesung-id239915207.html (aufgerufen am 04.12.2023).

Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage (o. D.): „Klassismus“, https://www.schule-ohne-rassismus.org/themen/klassismus/ (aufgerufen am 04.12.2023).

Ullrich, Carsten G.; Schiek, Daniela (2019): Forumsdiskussionen. Untersuchung zu einem neuen qualitativen Forschungsinstrument. Berlin/Boston: Walter de Gruyter Oldenbourg.

Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (2021): Die Gruppendiskussion: Von der Erschließung kollektiver Erfahrungsräume. In: Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (Hrsg.): Qualitative Methoden der Kommunikationswissenschaft. Baden-Baden: Nomos, S. 255-285.


Endnoten

[1] Vgl. Lokalredaktion Siegen (2023): Busausfälle in Siegen: Wütende Leute schreien die Fahrer an. In: Westfalenpost, 30.10.2023. https://www.wp.de/staedte/siegerland/anschreien-ist-auch-keine-loesung-id239915207.html (aufgerufen am 04.12.2023).

[2] Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage (o. D.): „Klassismus“, https://www.schule-ohne-rassismus.org/themen/klassismus/ (aufgerufen am 04.12.2023).

[3] Vgl. Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (2021): Die Gruppendiskussion: Von der Erschließung kollektiver Erfahrungsräume. In: Wagner, Hans; Schönhagen, Philomen (Hrsg.): Qualitative Methoden der Kommunikationswissenschaft. Baden-Baden: Nomos, S. 263.

[4] Kuckartz, Udo; Rädiker, Stefan (2022): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Beltz Juventa, S. 251.

[5] Vgl. ebd., S. 41.

[6] Diversity Arts Culture (o. D.): „Klassismus“, https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/klassismus (aufgerufen am 26.10.2023).

[7] Vgl. Ullrich, Carsten G.; Schiek, Daniela (2019): Forumsdiskussionen. Untersuchung zu einem neuen qualitativen Forschungsinstrument. Berlin/Boston: Walter de Gruyter Oldenbourg, S. 4.